Inspiring Stars – Inklusionstag auf dem Kongress der Internationalen Astronomischen Union 2018 in Wien


Seid herzlich gegrüßt,

heute darf ich mit euch ein unglaublich starkes Erlebnis teilen.

Und alles begann so:

Der Anruf

Es muss so Mitte April gewesen sein. Es war ein Mittwoch Nachmittag zwischen 13:30 und 14:00 Uhr, als plötzlich im Büro mein Festnetztelefon klingelte. Auf dem mobilen Gerät hatte ich bereits eine andere dienstliche Telefonkonferenz laufen. Also stellte ich die kurz stumm und hob den Hörer ab.
Es war jemand aus Österreich, der mich anfragte, ob ich grundsätzlich bereit wäre, bei einem Inklusionstag auf dem Kongress der Internationalen Astronomischen Union 2018 in Wien, mit zu wirken.

Mir fiel fast der Hörer aus der Hand ob dieser Ehre, die mir hier scheinbar zuteil werden sollte.
Ich sagte sofort zu. Nun hieß es warten, denn aus dieser Anfrage musste erst noch eine offizielle Einladung werden. Mir wäre die alleinige Anfrage schon Ehre genug gewesen. Weiß ich doch, wie es ist, wenn man so große Konferenzen plant. Da fragt man an, kann dann aber nicht alle aufnehmen. Das ist kein Makel, wenn man so wo raus fällt.
Nun hörte ich im April nichts mehr, kein Zeichen im Mai und auch im Juni nichts. Ich dachte ohne Groll, dass es halt diesmal nicht klappt.

Und dann geschah es. Am 20.07., genau an meinem letzten Arbeitstag vor meinem Urlaub, kam der Anruf mit der offiziellen Einladung.

Die Vorbereitung

Nun musste alles relativ schnell gehen. Zum Glück unterstützte mich die IAU hier tatkräftig. Sie suchten mir ein Hotel, hatten bei der Konferenz Assistenz zur Unterstützung und vieles mehr.
Ich musste, und das war ein sehr hartes Stück Arbeit, meinen Vortrag basteln, Skript und Folien und alles auf Englisch mit Fragen am Schluss für maximal 15 Minuten.
Zum Glück ist meine Englische Übersetzung meines Buches so gut wie fertig. Somit konnte ich hier einiges als Basis nehmen und musste nicht alles selbst formulieren.
OK, gesagt, getan. Der Vortrag stand rechtzeitig, so dass ich ihn noch oft üben konnte, das Ticket war samt Umsteigehilfen gebucht und das Hotel reserviert.

Die Reise

Schwierig war für mich auf dieser Reise, dass ich keine eigene Assistenz oder Begleitperson zur Verfügung hatte. Ich fuhr ins blaue hinein in der Hoffnung nach wien, dass dort schon irgendwie alles funktionieren wird, so dass ich nicht verloren gehe.

Leider kam ich am 21.08. erst mal über eine Stunde zu spät auf dem Wellcome Meeting an, so dass es im Grunde schon wieder vorbei war, weil das Kongresszentrum schloss.
Die Hauptkoordinatorin Wanda, die eine blinde Berufsastronomin ist, und in Südafrika arbeitet, hat mich mit einer sehenden Studentin der Astronomie, vom Gleis abgeholt. Dann ging es durch den Wiener Untergrund, was super funktionierte.
Wanda hat es heute, am 20.08.2019 sogar in die Sendung Sternzeit des DLF geschafft.
Hier geht es zur Sternzeit-Folge über Wanda
Und es kam sogar noch besser. DLF-Nova interviewte diese großartige Wissenschaftlerin direkt auf dem Inklusionstag der IAU.
Hier geht es zum Audio-Interview.

Um das hier mal vorweg zu nehmen. Wanda war durchaus nicht die einzige blinde Astrophysikerin, die ich hier traf.
Es gab auch welche mit anderen Einschränkungen, z. B. durfte ich einem Vortrag beiwohnen, den ein total gehörloser Astrophysiker hielt, aber der Reihe nach.

Wie gesagt, lief am Anreiseabend dann nicht mehr viel. Ich wurde in mein Hotel gebracht, wo ich im Hotelrestaurant zu Abend aß. Da musste ich mich ohne Assistenz ganz schön durchfragen und um Hilfe bitten. In dieser Hinsicht war diese Konferenz ein sehr gutes Training für Orientierung und Mobilität und für die Überwindung, dauernd fragen zu müssen.
Meine Erfahrung ist eigentlich immer die, dass man sich vorher viel mehr Sorgen macht, als nötig.

Auf ins Getümmel

So ging ich am nächsten Morgen mit mulmigem Gefühl im Magen ohne Hilfe zum Frühstücksbuffet. Immer dem Geschirrgeklapper und dem Kaffeeduft hinterher.

Und das sah zunächst nicht gut aus. Die Personaldecke war an diesem Morgen so dünn, dass man mir nur unter größten Schwierigkeiten hätte helfen können. Ich übte mich somit in etwas Geduld, bis die Rettung kam. Plötzlich sprang mir die sehende Ehefrau eines blinden Australischen Astrophysikers zur Seite. Wir drei kamen sofort ins Gespräch, diese liebe Frau versorgte mich einfach kurz mit und wir gingen nach dem Frühstück gemeinsam zu Fuß zum Konferenzzentrum.
OK, da konnte ich erst mal aufatmen, denn zum Zuhören bei Vorträgen brauche ich keine Hilfe. und der Aufbau meines Messestandes würde sich auch schon irgendwie finden.

Und genau so war es auch. Als ich mal meine Tische zugewiesen bekam, konnte ich ganz normal aufbauen, wie ich das bei meinen Vorträgen oft tue.

Ich hatte an Modellen alle Steinplaneten, den Mond und den Kometen Juri dabei. Außerdem noch taktile Mappen mit Darstellungen von Finsternissen, Sternbildern und mehr. Ein Highlight auf meinem Stand war sicherlich das sprechende Handplanetarium „Universe2Go“. Das war im Vorfeld noch etwas bockig, bis ich es hin bekommen hatte, dass es sowohl auf Englisch, als auch auf Deutsch quasi parallel auf meinem iPhone lief.
Nach dem Standaufbau war es dann auch schon Zeit, sich für die Vorträge in den Hörsaal zu begeben.

Und los geht es

Bei dieser Veranstaltung „Inspiring Stars“ handelte es sich um einen Tag der offenen Tür, bei dem das Thema Astronomie und Inklusion im Vordergrund stand.
Die IAU hat die Chance erkannt, welche Astronomie für die Inklusion bietet.
Und die haben für diesen Tag richtig Geld in die Hand genommen. Es ist ganz erstaunlich, wie es dem Orga-Team gelungen ist, uns alle auf der ganzen Welt verteilt zusammen zu trommeln und einzuladen.

Und so starteten die Vorträge mit einem aus Mexiko, der wunderbar Synergien und wissenschaftsübergreifende Kooperation aufzeigte, die gerade erst durch den Inklusionsgedanken entstehen können.

Der nächste Vortrag wurde dann von dem blinden Astrophysiker gehalten, dessen Frau mich beim Frühstück so vortrefflich unterstützte. Er führte uns vor, wie sonifizierte Astrodaten, z. B. Helligkeitsausbrüche oder Strahlenausbrüche klingen können, und dass man diese Klänge nach etwas Übung wirklich interpretieren kann. Seine Software „Starsound“ werde ich ganz bestimmt mal ausprobieren.

Daran schloss sich dann eine Diskussionsrunde mit Wissenschaftsjournalen an. Hier ging es darum, wie die Zugänglichkeit hier verbessert werden könnte, z. B. dass Mathematikformeln nicht nur als Bildchen im Dokument erscheinen, sondern auch in einer für blinde lesbaren Form hinterlegt werden sollte, z. B. in LaTeX.
Insbesondere bei Ebook-Standards gibt es mittlerweile zahlreiche Möglichkeiten, die Dokumente barrierefrei zu gestalten, wo von häufig noch viel zu wenig Gebrauch gemacht wird.

Nach dem Mittagessen hörte ich einen ganz beeindruckenden Vortrag eines gehörlosen Astronomen. Er zeigte u. A., dass die Astronomie durchaus eine Wissenschaft ist, die traditionell von Wissenschaftlern mit Einschränkungen schon immer betrieben wurde und wird.

Das kann man in meinem Buch „Blind zu den Sternen“ im Kapitel  „Wissenschaftler mit vier Sinnen“ auch nachlesen.

Danach bestürmte uns auch schon die Kindergruppe des Österreichischen Computercamps. Wir stellten alle kurz unsere Stände vor, die es dann im Anschluss zu bestaunen galt.
Seite des ÖCC

Von 15:00 Uhr bis 17:00 Uhr gab es dann auch noch einige öffentliche Vorträge. Darunter war auch der meine „Explore the Universe with four Senses“.
Parallel dazu lief immer die Ausstellung.

Ein starkes Erlebnis war auch, wie ergriffen der Generalsekretär der IAU über unsere Arbeit sprach, wie er sie würdigte und wie ernst ihm die Inklusion ist.
Da ich hier nicht alle Vorträge etc. erwähnen kann, gibt es hier den Link zum Programm in Englisch:
https://sites.google.com/oao.iau.org/inspiringstars
Und hier gibt es den Link zur Übersicht aller Stände, auch in Englisch:
https://sites.google.com/oao.iau.org/inspiringstars/the-exhibition?authuser=0

Ach ja, Interviews gab es natürlich auch noch.
Am Vormittag wurden einige von uns, auch ich, einzeln von einem Österreichischen Radio interviewt. Das war vielleicht ein seltsames Gefühl, von dem Reporter auf Englisch interviewt zu werden, obwohl wir das ebenso auf Deutsch hätten machen können. In der Sendung wäre das aber dann etwas irritierend. Die übersetzen das ja eh. Dann
ist das Interview selbst Englischer O-Ton bis Atmo. Das muss schon einheitlich sein.

Am Nachmittag hatte ich dann einen sehr interessierten Journalisten aus Österreich am Stand. Er begleitete die Kindergruppe des Computercamps.
Für einen Kinderkurier verfasste er einen sehr schönen und ergreifenden Artikel, der reichhaltig für die Gucklinge bebildert ist.
Was die Ausstellung betrifft, so habe ich diesem Artikel im Grunde nichts hinzu zu fügen.

Vielen Dank an Herrn Wagner, dem Journalisten, und seiner Redaktionsleitung, dass ich seinen Artikel hier veröffentlichen darf.
Der Artikel enthält derart viele Bilder, dass ich mir die Erlaubnis erbat, den Fließtext ohne Bilder hier einstellen zu dürfen, weil er mit Bildern für Screenreader sehr mühsam zu lesen wäre.
Für die Sehlinge gibt es natürlich dann auch noch den Link zum bebilderten Artikel.

Ich erlaube mir jetzt, einfach Herrn Wagner sprechen zu lassen.

Planeten und andere All-Objekte be-greifen

Am Tag der offenen Tür beim internationalen Astronomiekongress in Wien gab es viele taktile Modelle, mit denen auch blinde und sehschwache Menschen Himmelserscheinungen erleben konnten.
Nach den Sternen greifen – dieser meist symbolische Satz, der viel verspricht, hat in einer spannenden Ausstellung beim internationalen Astronomie-Kongress (31. Generalversamlung der Internationalen Astronomischen Union) im Wiener Austria Center eine Art wortwörtliche Bedeutung. Himmelskörper und -phänomene zu be-greifen ist das Anliegen der möglichst barrierefreien Schau „Inspiring Stars“ (anregende Sterne).
Der Kinder-KURIER begleitete – mit einer Kollegin aus der Inklusiven LehrRedaktion – eine Gruppe Jugendlicher des in dieser Woche laufenden Computer-Camps im BundesBlindenInstitut diese Ausstellung. Julia und Lara tasteten mit ihren Händen zunächst Modelle von Mars, Merkur und Erde ab. Zu diesem Vorgang sagen sie sowie ihre Kolleg_innen übrigens immer „anschauen“.
Am Stand von Gerhard Jaworek kann auch ein Modell vom Mond und eines Meteors be-griffen werden. Jaworek, der selber blind ist und schon als Kind die Liebe zur Astronomie entdeckte, hat diese Modelle so wie seine Kolleg_innen an den anderen Stationen mittels 3D-Drucker angefertigt. Er hat aber auch informative Hefte – auf Deutsch und auf Englisch – zu den Planeten erstellt – in Reliefdruck – also mit erhabenen, be-greifbaren, Stellen sowie auch in Braille-Schrift. Jaworek demonstrierte auch sein „sprechendes Hand-Planetarium“. Dazu platzierte er sein SmartPhone in einer Vorrichtung, wie sie von Virtual-Reality-Brillen bekannt ist, schloss sie an einen Lautsprecher an – und im absoluten Dunklen kann durch die Geräusche des Universums navigiert werden. „Die Sonne sendet ein sehr spannendes Radioprogramm aus“, schreibt er etwa in seinem Buch (siehe Infos unten).
Neben angreifbaren Modellen – übrigens auch von einem stark vergrößerten Blatt eines Laubbaumes oder von Entwicklungsphasen von Pilzsporen – gab es auch etliche Stationen, in denen Sichtbares aus dem Weltall in Töne „übersetzt“ wird. Tiefe Töne für dunkle Stellen und hohe bis höchste für (sehr)helle Stellen. Viola und Laura hörten etwa über eine Handy-App so mit der Bewegung ihrer Finger eine dargestellte Sonnenfinsternis. Die konnten sie auch spüren, weil diese App das Gesehene nicht nur in Töne, sondern auch in Vibrationen verwandelt.
Bei einer anderen Station nahmen Natalie, Eli und Maximilian an einem Hör-Quiz teil, bei dem es um Zuordnung von Gehörtem und Frequenz-Kurven ging. Sofia und Emma tasteten be-greifbare Koordinatensystem des Weltalls ab, Igor, Dimana und Martina be-griffen sechs Sternbilder auf den Seiten eines großen Würfels und nebenan noch eines mit unterschiedlich warmen Lämpchen. Dabei handelt es sich um eine der Stationen, von der auch Sehende mehr an Information und Wissen haben, als von herkömmlichen Sternbildern. Denn die unterschiedlich warm leuchtenden Lämpchen weisen auch darauf hin, dass die Sterne ja nicht alle die gleiche Temperatur haben.
Das gilt übrigens auch für das Modell des Orion-Nebels, das Fabian, Stefan und Maximilian unter die Finger nahmen. Während Sternbilder – sowohl am Himmel als auch in Darstellungen für Sehende ausschauen, als wären sie alle gleich weit entfernt, sind in diesem Modell die Kugeln, die für die wichtigsten Sterne dieses „Nebels“ stehen, unterschiedlich weit von der Ausgangsplatte entfernt. Verschiedene Farben zeigen wieder Temperatur-Unterschiede an.
„Wir wollen den Himmel zu allen bringen!“ Dieser Satz war am Tag der offenen Tür bei diesem Kongress oft zu hören. Leider gab’s nur einen solchen Tag bei der noch bis Ende August laufenden Tagung. Aber die Idee „Inspiring Stars“ war über den ganzen Kongress hinweg allgegenwärtig, weil viele Exponate die ganze Zeit ausgestellt wurden. Somit wurde diese Botschaft weit in die Astronomische Gemeinschaft getragen.
„Das Wichtigste für Menschen mit Blindheit ist es, den Mut zu haben, sich etwas vorzustellen und mit sehenden Menschen über ihre Vorstellungen ins Gespräch zu kommen ohne die Angst, ihre Vorstellung könnte falsch sein“, schreibt Gerhard Jaworek in seinem Buch „Blind zu den Sternen – mein Weg als Astronom“ (Verlag Aquensis Menschen, 14 €).
www.iau.org
Den Sternen zuhören
Der im Bericht erwähnte Gerhard Jaworek ist übrigens nicht der einzige unter den Astronom_innen des Kongresses, der nichts sieht. Wanda Diaz Merced, die am Observatorium von Kapstadt (Südafrika) forscht, wurde sogar über einen TED-Talk im kanadischen Vancouver (2016) bekannt, wo sie über ihre Spezialität, das Hören der Sterne, sprach. Zu einem kurzen Bericht und Video im Artikel geht es hier unten.

In English: Explore the Universe via Sound

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Und hier kommen alle Gucklinge auf die versprochene Augenweide

Artikel mit allen Fotos

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Was wäre ein Artikel dieser Länge ohne Fazit:

* Der Inklusionstag war ein großartiger Erfolg.

  • Hier wurde etwas angestoßen, das sicherlich noch reichhaltige Früchte tragen wird.

* Es hat sich alles bestätigt, was ich jemals in meiner „Inklusion am Himmel“ gesagt und postuliert habe.

* Es ist für mich von unschätzbarem Wert, hier dabei gewesen sein zu dürfen.

  • Nicht jeder Zugang zu Astronomie ist für alle Menschen geeignet, aber es gibt einen Zugang für jeden

 

Was fehlt noch? Unbedingt eine kleine Danksagung.

Ich danke der Leitung des Studienzentrums für Sehgeschädigte (SZS) des Karlsruher Institutes für Technologie (KIT) http://www.szs.kit.edu für seine Unterstützung

Die Leitung, die mich hier unterstützt und diese Arbeit mit trägt, würdigt und schätzt,

der Mitarbeiter, der mir mal schnell noch zehn neue taktile Mappen in Englisch erstellt,

die Mitarbeiterin, die mir in einer affenartigen Geschwindigkeit noch bei der Erstellung eines Posters hilft,

der Kollege, der mir immer mal wieder das eine oder andere Modell durch den 3D-Printer lässt

und meine Arbeitsplatzassistenz, die mir bei der Gestaltung meiner Folien half und mir die Züge buchte.

Ohne euch alle, könnte ich diese Arbeit niemals so durchführen.

 

Sicherlich habe ich, wie das immer so ist, nicht alle erwähnt. Dank auch an die nicht erwähnten. Ihr seid nicht minder an diesem ewigen Projekt beteiligt.

 

So, jetzt hoffe ich, dass meine und auch Herrn Wagners Freude und Begeisterung hier auf euch übergeht.

Die Abreise erspare ich uns an dieser Stelle.
Alles gute bis zum nächsten Mal wünscht euch

Euer Gerhard Jaworek.

Urlaub vor derBlindheit, oder von der Welt der Sehenden machen


Liebe Leserinnen und Leser,

heute geht es in meinem Blog mal um kein technisches Thema. Endlich mal, denn ich möchte künftig auch diesem Teil der Blogbeschreibung mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung beimessen.

Heute geht es um Urlaub. Urlaub machen, nicht im herkömmlichen Sinne, sondern Urlaub von der Behinderung, in meinem Fall von der Blindheit, machen.

Oder sollte man eher sagen: „Urlaub von der Welt der Sehenden?“

 

„Lebe möglichst, als wärest Du sehend!“ stand vor einigen Jahren auf einem Plakat, das den Studierendenraum unseres Institutes zierte. Das war ein Motto der damaligen Leitung, dass wir unbedingt „Top-Blinde“, das war sein Wort, sein sollten, um vorgezeigt zu werden, um Eindruck zu schinden, und letztlich, um auch zu zeigen, welch tolle Arbeit an unserem Institut gemacht wird.

Damals war das das Motto meines Vorgesetzten, weshalb ich dem Plakat kein Leid zufügen durfte,schwor mir aber, dieses Plakat, sollte ich einst dazu befugt sein, umgehend zu entfernen und diese Zerstörung dieses Satzes zu zelebrieren.

Die Zeiten haben sich geändert, ich arbeite mittlerweile seit fast 20 Jahren an besagtem  Institut und auch unsere soziale humanistische und pädagogische Ausrichtung  hat sich diesbezüglich zum Positiven hin entwickelt, so dass ich vor einigen Jahren die Zerstörung dieses Plakates feierte.

„Blinder, Lebe, als könntest Du sehen“, „Lahmer,  lebe, als köntest Du gehen“, „Tauber, lebe, als könntest Du hören“. Man merkt hier die Absurdität, die in derlei Sätzen steckt. Es geht schlicht und einfach nicht.

Dennoch. Mein Alltag ist stets der Versuch, zwar nicht so, wie ein Sehender zu leben, aber mich in deren Welt zurecht zu finden und zu bestehen.

Das ist zuweilen recht anstrengend. Hier soll es aber nicht darum gehen, was Schwierigkeiten bereitet, sondern darum, dass ich es wichtig finde, dass ich ein Mal im Jahr Urlaub von der Blindheit oder der Welt der Sehenden nehme,.
indem ich mich an einem für uns geeigneten Ort mit blinden Menschen treffe.
Ich kenne viele blinde Menschen, die erfüllten und schönen Abenteuerurlaub, z. B. Bergsteigen, Wandern, Kultur, machen und daran Freude finden.
Das tue ich durchaus auch.

Was ist anders:
Schon seit vielen Jahren unternehme ich immer wieder Spezialurlaub für blinde Menschen. Hierfür gibt es spezielle Erholungszentren, die auf unsere bedarfe eingerichtet sind.
Da ist zunächst die Anreise. Die Meisten dieser Häuser verfügen über einen kleinen Fuhrpark. Somit kann man sich direkt vom Haus am Zielbahnhof abholen lassen, ohne, dass lästige Taxikosten anfallen, der Taxifahrer nicht weiß, wo man hin möchte, oder… Schon hier merke ich, dass das Personal geschult ist, so dass die Anreise barrierefrei abläuft.
Schon im Vorfeld stimmt man die An- und Abreise so mit dem Haus ab, dass es für das Personal möglichst effizient abläuft, z. B. das mehrere Personen gleichzeitig abgeholt werden können. Das bedeutet manchmal warten, ist aber kein Problem, weil jeder von uns weiß, wie wichtig eine gute Reise und eine Abholung für uns ist, und somit viel Verständnis und Geduld für den Mitbetroffenen aufbringt.

Im Haus angekommen, finde ich am Boden Leitlinien, Punktschrift an Zimmertüren, Treppen und Einrichtungen. Der Aufzug spricht mit mir und alle Stockwerke sind taktil beschriftet.
Im Zimmer liegen alle Informationsschriften auch in Blindenschrift aus. Speisepläne sind entweder über das Telefon akustisch, als Aushang in Blindenschrift oder online zugänglich.
Das gilt auch für Speisekarten oder sonstige Listen.
Beim Essen steht Personal am Buffet zur Verfügung, das Essen wird direkt zum Tisch gebracht und ich werde darüber im Uhrzeigersinn aufgeklärt, was sich wo auf meinem Teller befindet, z. B. „Fleisch von 9 – 11 Uhr, Erbsen zwischen 5 und 6 Uhr“… In manchen Blindenhäusern, gibt es überhaupt kein Buffet. Es gibt zu Mittag eine Menüauswahl, meist ein vegetarisches und ein anderes. Für das Frühstück legt man sich vorher schon fest, was man ungefähr möchte, damit einem das Personal das schon am Platz richten kann, und zu Abend gibt es in dem Fall auch für alle dasselbe Abendbrot.
Zugegeben. Das ist auch für mich manchmal etwas unflexibel und eingeschränkt. Das nervt besonders dann, wenn es mal etwas gibt, das man nicht so mag. Es ist aber möglich, um Ersatz zu bitten.
Ich habe dann halt keine unerschöpfliche Auswahl, wie an einem Buffet in einem Hotel. Das will ich aber u. U. gar nicht. Mich strengt es unheimlich an, wenn meine Begleitung mir erst mal eine halbe Stunde erklärt, was es gibt, und ich weiß, dass das für sehende Begleitpersonen auch so ist.
Was den Ablauf des Essens betrifft, so kann ich mir ganz entspannt, mal ein Fleisch schneiden, das Hähnchen entbeinen, den Fisch filetieren oder einfach mal ein Brot schmieren lassen und ein Getränk wird mir eingeschenkt, wenn ich das möchte.. Vieles von dem, was ich hier aufgezählt habe, kann ich natürlich selbst. Dennoch. Ich finde schön und gesellschaftskonform zu essen manchmal nicht so einfach. Eine Pizza z. B., die größer als der Teller ist, lasse ich mir grundsätzlich in der Küche schneiden, weil sonst die Katastrophe ihren Lauf nehmen würde.
Aber da ist es halt. In meinem Urlaub ist das normal. In anderen Lokalen muss ich es erst erbitten. Meist erfahre ich hier große Hilfsbereitschaft.  Aber, es passiert schon mal, dass es vergessen wird, der Kelner dann mit meinem Essen nochmal davon rennen muss, was ja irgendwie auch wieder doof aussieht und Blicke auf sich zieht, oder manchmal ist das Personal überlastet. Ein einziges Mal hat mir das ein Kelner mal ehrlich so kommuniziert…
Normalerweise muss ich mir die Hilfe erbitten. In meinem Refugium wird mir die Hilfe mit viel Verständnis und Empathie angeboten und ich entscheide…
Und wenn wir schon bei Kelnern sind. Vor allem dann, wenn es in einem Lokal sehr laut ist, habe ich keine Chance, ohne sehende Hilfe etwas zu erlangen, das meine durstige Kehle benetzen könnte. Ich höre die Bedienung nicht. Ich kann mit ihr keine Zeichensprache oder Augenkontakt führen. Ich kann doch auch nicht, wie ein Proll durch das ganze Lokal schreien… Und, wenn dann noch eine Fremdsprache, z. B. im Ausland oder eine andere Kultur dazu kommt, wird die Bestellung eines Getränkes eine schier unlösbare Aufgabe, ein Stressfaktor und nervt einfach nur.
Hier, in meinem Blindenhaus,  werde ich gefragt, ob ich noch etwas möchte. Wenn man am Ort dann schon etwas bekannter ist, merkt sich das Personal sogar, was man so für Vorzüge und Vorlieben hat.
Das gibt es aber manchmal in Stammkneipen auch, was ich als sehr angenehm empfinde.

Sollte ich mich einmal auf der Hotelanlage verlaufen, muss ich mich hier nicht mit zwar wohlgemeinten Erklärungen, wie „Sie müssen dort lang“… herumplagen. Entweder ich bekomme eine Erklärung, die ich verstehe, oder werde hin geführt, bzw. wieder auf den richtigen Weg gebracht..

Man wird am Pool, in der Bar oder am Stand nicht angegafft, wenn man sich mal ohne seine Begleitperson alleine dort hin wagt, weil diese mit einem anderen Gast einen Shopping-Nachmittag machen, den blinden Mann daheim lassen, und möglicherweise nur seine Kreditkarte mitgenommen haben. Darüber zerreißen sich Gäste durchaus das Maul.
Dass ich aber Shopping unerträglich finde, dass es mir alleine mit meinem Hörbuch, meinem Bierchen oder Kaffee ganz hervorragend geht, können viele sich überhaupt nicht vorstellen.

Was Ausflüge und andere Unternehmungen betrifft, so ist das in dem Haus, das ich besuche schon so, dass der Urlaub in dieser Hinsicht etwas erlebnisärmer sein könnte, wie sich das Sehende vielleicht so vorstellen,, wenn man ihn mit einer sehenden Reisegruppe etc. erlebt.
Das liegt daran, dass die personellen Ressourcen der Häuser auch begrenzt sind, und hier auch der Sparzwang und die Wirtschaftlichkeit in immer verherender Weise um sich greifen. Viele Blindenhäuser sind mittlerweile geschlossen.  Somit muss man immer einen Kompromiss finden, was man unternehmen könnte, dass alle auf ihre Kosten kommen. Das kann auch mal bedeuten, dass man mal seine Wünsche zugunsten dem Rest der Gruppe zurückstellen muss.

Wenn ich beispielsweise Gleitschirmfliegen möchte, dann kann die andere Gruppe nur irgendwie dort, wo der Flugplatz ist, wandern oder Kaffeetrinken gehen, weil der Kleinbus warten muss, bis ich wieder gelandet bin, was mit Seilbahnfahrt Start und Flug einen ganzen Nachmittag benötigt.
Das bekommt man aber in der Regel ganz gut hin. Ich habe noch keinen Streit deswegen erlebt. Jeder von uns weiß, dass die Welt eines Blinden oft eine Welt der Ungeduld und des wartens ist, weil wir oft nicht sehen, was sich in unserer Umgebung tut, und somit keinen Reiz empfangen.
Aus diesem Grunde gehen wir hier in aller Regel deutlich rücksichtsvoller miteinander um.

Wir erleben häufig den Urlaub viel stärker in der Gemeinschaft. Wir wollen überhaupt nicht allen Sehenswürdigkeiten hinterher rennen. Ein vertrauter Spazierweg, selbstständig den Pool zu benutzen, sich ohne sehende Hilfe in der Bar etwas bestellen, aber auch am Abend musizieren und ein sehr kommunikatives geselliges Leben zu führen, wie ich das so unter sehenden nur extrem selten erlebe, das ist unser Urlaub. Auch einfach mal ein Hörbuch auf dem Balkon zu hören, gehört dazu. Natürlich kommen auch Highlights, wie mein vorhin erwähnter Gleitschirmflug vor.

Oft bieten diese Häuser auch Themenwochen, wie Wandern, Langlauf, Tandem, Basteln etc. an, aber das liegt mir nicht so, eine Woche lang jeden Tag dasselbe zu machen.
Nun kommen wir zu dem Punkt, der vermutlich das wertvollste an einem Spezialurlaub für Blinde ist, und wofür man in den anderen Dingen eventuell bereit ist, gewisse Abstriche zu machen.
Es ist der Umgang, ist die Art der Kommunikation untereinander und die Themen, über welche wir blinden Menschen untereinander sprechen. Außerdem ist es das wohltuende Gefühl, sich auch über die Einschränkung auszutauschen.

Bei mir entwickelte sich die Sache so:
Als blinder Student unter sehenden Studierenden war es zwar nicht üblich, die Zugehörigkeit zur Gruppe derer, die nicht sehen können, zu verleugnen, aber trotzdem war es mir immer ein Bedürfnis, mich in irgend einer Weise von dieser Gruppe abzugrenzen.
Ich wollte nicht zu jenen gehören, die beispielsweise dauernd mit dem Vorurteil belegt werden, neben der körperlichen auch eine geistige Einschränkung zu haben. Ich war beleidigt, wenn mich jemand fragte, ob ich auch in der Werkstadt XY für Menschen mit Behinderung arbeite. Ich hätte mir mein Abiturzeugnis am liebsten an die Stirne geheftet. Es war sehr schick, zu den „Top-Blinden“ zu gehören.

Ein Freund warnte mich davor, mich zu sehr der Gruppe der Sehenden anzuschließen, und meinte, dass ich eines Tages noch froh sein würde, ein Refugium zu finden, in dem ich meine Blindheit ausleben dürfe. Er überredete mich, mit ihm zusammen einen Spezialurlaub für Menschen mit Blindheit zu machen. Und da tat sich mir wirklich eine neue Welt auf. Ich merkte, wie anstrengend mein Leben dadurch war, dass ich meinen sehenden Mitmenschen hinterherhechelte. Ich merkte, wie mir die ganzen Jahre die Gespräche unter Blinden, die thematisch oft anders gelagert sind als die mit Sehenden, so sehr fehlten. Sprechen Blinde über Kinofilme, wird kaum über Schauspieler geredet. Den Film erleben wir als ein Hörspiel, bestehend aus der Filmmusik, den Hintergrundgeräuschen, den Stimmen der Synchronsprecher und seit einigen Jahren mehr und mehr der Audiodeskription. Hierbei handelt es sich um Zusatzerklärungen die das erläutern, was für blinde Menschen im Film nicht hörbar ist, z. B. ein entscheidender Blickkontakt, eine wichtige Geste oder eine Beschreibung einer Umgebung. Diese Audiodeskriptionen werden zwischen die gesprochenen Passagen des Films gepackt und können entweder über einen separaten Tonkanal oder über ein Smartphone mit Knopf im Ohr abgehört werden. Manche Menschen mit Blindheit sprechen auch eher über Hörspiele und Radio, über Geräusche und Musik. Einige binden viele Geräusche in ihre Sprache ein und lieben es, Stimmen naturgetreu nachzuahmen.

Ich merkte, wie wohltuend es war, in dieser Umgebung auch mal blind sein zu dürfen
Wir sprechen viel über Radio, Hilfsmittel und Apps.
Wir musizieren zusammen, als hätten wir das schon immer getan. Da entstehen spontan und ohne Probe vierstimmige Chorsätze. So musikalisch improvisieren konnte ich bisher nur mit sehr wenigen sehenden Musikern. Entweder sie brauchen Noten, oder müssen Dinge erst üben, die blinde Musiker frei von der Leber weg spielen. Wenn gemeinsam gesungen werden soll, und die Tonart muss transponiert werden, dass jeder mitsingen kann, so passiert das bei blinden Gitarristen, Pianisten oder Akkordeonspielern ganz automatisch…

Bemerkenswert ist die Vielfalt der Personen, die sich in diesen häusern trifft. Vom Menschen, die in einer beschützenden Werkstatt für Behinderte arbeiten, bis hin zum blinden Universitätsprofessor ist alles dabei, und wir finden eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Themen und lachen gemeinsam…
Wie auch immer.
Ich mache meinen Spezialurlaub nicht, um ungestört, weil die anderen es nicht sehen können, „in der Nase bohren zu können.“ Das hören blinde Menschen übrigens… Ich mache das, weil es mir viel Kraft gibt, mich auch mal in meiner Gruppe, in meiner Blindenwelt etc. zu bewegen. Ich tue es, um dann wieder mit neuer Kraft mich in unserer gemeinsamen Welt, der Welt der Sehenden,
zurecht zu finden, auszutauschen unddamit Brücken der Liebe, von Verständnis und Empathie geschlagen werden, die unsere Welten verbinden.