Ein großes Stück Dankbarkeit


Meine lieben,
Heute geht es mal nicht um Astronomie, sondern um gefühlte Dankbarkeit.
Ja, ich weiß, dass ich vor vielen Artikeln geschrieben habe, dass das C-Wort nicht mehr auf diesem Blog erscheinen soll, und dabei bleibt es auch. Dennoch möchte ich gerne mit euch etwas positives zum Thema Pandemie teilen.

Immer wieder kommt es vor, dass ich mir vorstelle, was gewesen wäre, wenn die Pandemie in meiner Kindheit ausgebrochen wäre.
Diese Vorstellung löst in mir trotz aller Widrigkeiten große Dankbarkeit aus, dass die Pandemie erst jetzt in unser aller Leben trat. Um diese Dankbarkeit geht es in diesem Artikel.

Aus meinem Buch

Am 21. Februar 1969 wurde ich als fünftes von sechs Kindern in Schopfheim geboren. Da ich zwei Monate zu früh das Licht der Welt erblickte, musste ich zunächst in den Brutkasten. Nach dem damaligen Stand der Medizin wurden Frühgeburten mit reinem Sauerstoff versorgt. Nicht selten, so auch bei mir, führte dies zu einer Augentrübung, die der Grund für meine Blindheit ist. In den Industrienationen war diese Art der Erblindung die häufigste Ursache.

Medizinisch betrachtet galt ich immer als zu 100% erblindet, verfügte aber, bis ich Mitte 20 war, über eine hell-dunkel-Wahrnehmung, die sich dann mit der Zeit verschlechterte und verloren ging. Aufgewachsen bin ich mit meinen zwei Brüdern und drei Schwestern in einer Arbeiterfamilie. Somit führte vor allem mein Vater uns schon als Kinder an technische Dinge heran und lehrte uns den Umgang mit Werkzeug und Werkstoffen wie Holz. Ich erinnere mich noch, dass ich als kleines Kind Zeitungen reißen musste, aus denen anschließend mit Kleister Pappmaschee angerührt wurde, womit mein Vater die Landschaft für seine riesige elektrische Eisenbahn modellierte.

Von meiner Mutter wurden wir schon als Kinder stets zur Arbeit und Mithilfe in Haus, Hof und Garten herangezogen. Jeder musste für alle etwas übernehmen und war dafür verantwortlich. Schon mit vier oder fünf musste ich auf einem Schemel stehend Geschirr abtrocknen. Dabei habe ich übrigens sehr viele Volkslieder gelernt. Später half ich dann auch im Garten bei der Ernte mit.

Aufgrund der Größe unserer Familie konnte auf meine Einschränkung nicht viel Rücksicht genommen werden. Ich war bei allem dabei, musste bei allem helfen und von mir wurde dasselbe wie von meinen sehenden Geschwistern verlangt. Das war nicht immer fair. Es würde in der heutigen Zeit, in welcher blinde Kinder oft überbehütet werden, niemand mehr verlangen, dass ich als blindes Kind beispielsweise auf dem Feld helfe, Kamille zu pflücken. Es dauert einfach länger, wenn man die Blümchen ohne Augen suchen muss, und ich war ob dieser Langsamkeit oft frustriert und entmutigt und verlor das Selbstvertrauen. Andererseits verdanke ich dieser harten Schule eine Selbstständigkeit und Fertigkeit in so vielen Dingen, die ein blindes Kind heutzutage kaum noch erlangen kann, weil Kinder im Allgemeinen meist nicht mehr in diesem Maße im Haushalt mithelfen müssen. Somit kann ich heute retrospektiv große Dankbarkeit für meine nicht immer einfache Kindheit empfinden. Vor dem Hintergrund des Inklusionsgedanken möchte ich hier nicht versäumen zu erwähnen, dass ich für meine klassische Ausbildung in Blindentechniken, wie Blindenschrift, Mobilitätstraining und sonstiger lebenspraktischer Fertigkeiten, die ich in sechzehn Jahren an verschiedenen Blindenschulen und Einrichtungen erlernen durfte, sehr dankbar bin.

All dies ist mir auch in der heutigen Zeit, wo im Blindenwesen viel mehr moderne Technologie Einsatz findet, eine große Hilfe. Der Inklusionsgedanke und dessen Umsetzung ist ein fließender Prozess und muss sich entwickeln. Dabei dürfen aber die unverzichtbaren Blindentechniken nicht auf der Strecke bleiben, was momentan leider in manchen Fällen geschieht. Dies aber nur am Rande.

Meine Kindheit

So wuchs ich also mit meinen Eltern und fünf Geschwistern in einer Sozialwohnung relativ ärmlich auf. Unsere Kinderzimmer waren so klein, dass lediglich zwei Stockbetten und der Kleiderschrank darin Platz fanden. Später, als meine Geschwister schon ausgezogen waren, hatte ich eines dieser kleinen Zimmer dann für mich alleine. Als dann z. B. eine Musikanlage und der Computer dort Einzug hielten, war das zimmer eng voll. Es verblüfft mich noch immer, wie viel Platz ich heute benötige und habe, und wie wenig davon wir als Kinder hatten. Es versteht sich von selbst, dass wir daher die meiste Zeit draußen im Wald, in meiner Oma Garten oder uns sonst wo herum trieben. Telefon hatten wir natürlich keines. Als wir es bekamen, war ich schon fast erwachsen und mit der Hauptschule fertig. Ein Auto, mit dem wir hätten Ausflüge machen können, gab es auch erst, als ich längst schon erwachsen war.

Jeder weiß, dass es natürlich auch kein Internet gab. Das war ja erst langsam vernünftig ab Mitte der neunziger zu benutzen.

Mit all diesen Umständen hatte ich noch Glück, denn ich war in verschiedenen Blindenschulen immer unter der Woche im Internat. Dort war alles modern. Ich hatte mein eigenes Bett, einen Schrank, ein kleines Schließfach und sogar ein eigenes Waschbecken.
Ich erinnerte mich noch ganz genau, dass ich nach dem Feuer und dem Ofen suchte, denn es kamm immer warmes Wasser aus der Leitung. Das war für mich ohne Ofen nicht vorstellbar.
Es gab dort viel Platz, viel Spielzeug und viele Möglichkeiten zu musizieren oder Sport zu treiben.

Es gab in diesem Internat auch eine Krankenstation. Ich erinnere mich auch daran, dass unsere Wohngruppe mal wegen Scharlach oder Masern unter Quarantäne gesetzt wurde. Die schützende Impfung dagegen gab es noch nicht.
Da unsere Gruppe nur aus Erst- und Zweitklässlern bestand, kam die Lehrerin dann halt in die Wohngruppe, um das wichtigste zu unterrichten. OK, wir durften nicht raus, bzw. nur dann, wenn niemand anderes auf dem Spielplatz war. Aber alles in allem war das alles noch zu ertragen, denn wir Kumpels waren ja unter uns und hatten uns. Dass wir an den Wochenenden in der Quarantäne nicht heim durften, war für manche schlimm, aber für mich eher nicht. Wir, die von weiter her kamen, durften sowieso nur alle vierzehn Tage heim und von Heimweh wurde ich glücklicherweise nie sonderlich geplagt.

So war ich also nur an jedem zweiten Wochenende und in den Ferien daheim, was natürlich den Nachteil hatte, dass ich die Kinder im Dorf überhaupt nicht kannte und mich später dann mehr und mehr von unserer Familie entfremdete, weil ich eben eine ganz andere Entwicklung nehmen durfte.

Was wäre gewesen, wenn…

So, und nun stellt euch vor, in diese Zeit wäre eine Pandemie gefallen.

  • Mein geliebtes Internat wäre sofort geschlossen worden und ich hätte nach hause müssen.
  • Ohne Telefon, Computer, Hilfsmittel und Internet wäre an Unterricht absolut nicht zu denken gewesen. Ich hatte damals nicht mal eine eigene Punktschrift-Schreibmaschine. Punktschriftbücher sind groß und sperrig. Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Schule die Versorgung auf dem Postweg hätte sicher stellen können.
  • Meine Eltern hatten keine Zeit, uns zu unterrichten. Wenn es in der Schule nicht lief, dann setzte es etwas, aber ansonsten… Naja, das waren noch andere Zeiten.
  • Abgeschnitten von allen Freunden säße ich daheim herum.
  • Meine Geschwister hätten natürlich auch keine Schule. Ich weiß nicht, wie sie mit Material versorgt worden wären. Damals war es ja sogar noch schwierig, Kopien anzufertigen. Wir lernten noch mit Kohlepapier in der Schreibmaschine zu schreiben oder schrieben manchmal in diesem Matrizen-Format für die spätere manuelle Vervielfältigung.
  • Die einzigen Tische, auf welchen Hausaufgaben oft unter Mamas Fuchtel gemacht wurden, standen im Wohnzimmer und in der Küche. Das wäre für uns sechse deutlich zu eng geworden.
  • Mein großer Bruder und meine große Schwester hatten einen kleinen weiteren Tisch in ihrem Zimmer, aber diesen Krieg hätten wir kleinen niemals gewonnen, dieses Zimmer nur ohne Erlaubnis betreten zu dürfen.
  • Wie gesagt. Telefon und Internet gab es nicht. Und für stundenlange Gespräche von der Telefonzelle aus, hätten uns unsere Eltern das Geld niemals gegeben, weil sie es einfach auch nicht hatten.
  • Im ersten Lockdown durfte man ja nicht mal raus. Meine Mutter wäre mit uns in der Wohnung durchgedreht. Sie wurde schon leidlich, wenn es mehrere Tage regnete, und wir nicht raus konnten. Einen eigenen Garten hatten wir nicht, und in die meiner Großeltern oder meines Onkels durfte man ja nicht.
  • OK, mein Vater wäre vielleicht auch daheim. Er war bei Konflikten oft etwas der ausgleichende Pol, aber das hätte er auch nicht ausgehalten. Da bin ich mir sicher.
  • Unsere Familie war auch ohne Pandemie nicht sehr stabil. Es gab recht viel Gewalt und Geschrei. Es wäre alles, aber auch wirklich alles eskaliert bei uns.

Und jetzt?

Aber nun bin ich schon älter und die Pandemie kam.
Gäbe es die heutige Technologie nicht, dann wäre ich, weil ich quasi alleine lebe, hilflos. Es könnte sogar sein, dass ich mich vorübergehend in ein Heim begeben müsste, damit ich wenigstens grundversorgt wäre. Auf jeden Fall hätte ich Hilfe und Unterstützung benötigt.

Natürlich ist vieles schlimm. Natürlich fühle ich mich oft einsam. Natürlich habe ich mit dem Abstandhalten etc. Probleme. Natürlich sitze ich oft auch im Hamsterrad und fühle mich wie der Panther in Rainer-Maria Rilkes Gedicht, das ihr hier anhören könnt. außerdem schrieb ich über all diese negativen Dinge ausführlich in meinem C-Report, um das C-Wort zu vermeiden…

Aber Dank heutiger Technologie und Internet sieht die Situation doch etwas positiver aus:

  • Ich kann arbeiten.
  • Ich kann mich bilden,
  • ich kann mich online mit Lebensmitteln versorgen.
  • ich kann mich mit Menschen online treffen, wenn ich einsam bin.
  • Ich gehöre zu der Gruppe von Arbeitnehmern, die sich all dieses auch noch finanziell leisten kann.

Ihr seht es ja selbst, wie der Blog richtig fett geworden ist.
Ich durfte so vieles auch lernen.
Für all das bin ich unendlich dankbar. Es hilft mir, die dunklen Zeiten besser zu überstehen, wenn ich mir derlei immer mal wieder vergegenwärtige. Ihr könnt das ja auch mal für eure Situation versuchen. Es ist sehr erfüllend, entspannend und tut einfach nur gut.
Denkt auch an die Dinge, die momentan wieder möglich sind. Denkt auch daran, dass die Tage schon wieder länger werden. Wir dürfen auf den Frühling hoffen. Der kommt ganz bestimmt.

3 Gedanken zu „Ein großes Stück Dankbarkeit“

  1. Hallo Gerhard,
    deine tief schürfenden Ausführungen machen sehr nachdenklich, aber dankbar – dankbar für das Zeitalter und für das Land, in dem wir leben dürfen – und auch dankbar dir gegenüber, der du das ins Bewusstsein gerufen hast!
    Herzliche Grüße
    Dietmar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert