Seid herzlich gegrüßt,
ihr kennt das ja von mir, dass es hier nicht immer und zwangsläufig um Astronomie gehen muss. Ein großes Thema ist für mich die Inklusion. Es gibt sogar eine eigene Kategorie auf dem Blog dafür, wo nur die Themen angezeigt werden, welche sich mit inklusiven Inhalten beschäftigen. So auch heute.
Gestern, am 18.09.2022 fand endlich mal wieder nach drei Jahren im Rahmen des Baden-Marathon ein Inklusionslauf statt. Dort konnten sich Menschen mit unterschiedlichsten Einschränkungen und Beeinträchtigungen mit ihren Begleitpersonen als Team anmelden. Das tat ich dann auch gemeinsam mit meiner sehenden Kollegin. Wir beteiligten uns schon einmal 2018 an diesem Lauf. 2019 konnten wir nicht, und dann kam die Pandemie. Über den Lauf von 2018 schrieb ich in Inklusion hautnah erleben.
Und so traten wir beide mit neuem Namen und von meiner Kollegin präparierten T-shirts an.
Altes Team mit neuem Namen
Ich erwähnte ja schon an anderer Stelle, dass unser Institut, das früher Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) hieß, sich Anfang 2022 den Namen ACCESS@KIT gegeben hat, weil der die inklusiven Arbeitsfelder, die wir mittlerweile abdecken deutlich besser widerspiegelt. Längst sind wir über die Unterstützung von Studierenden mit Sehbeeinträchtigung hinaus gewachsen und außerdem war das Wort „Sehgeschädigt“ sprachlich absolut nicht mehr vertretbar. Man wird ja nicht durch „sehen“ geschädigt, nicht war?
Aber zurück zum Lauf.
Vor dem Start
Es fanden sich gegen 13 Uhr 94 Laufteams zum Start am Schlossplatz Karlsruhe ein. Die waren so unterschiedlich und divers, dass es nicht inklusiver sein konnte.
zahlreiche Einrichtungen für Menschen mit Einschränkungen, wie z. B. die Lebenshilfe, die Reha-Südwest und die Caritas, aber auch z. B. die Schule für Menschen mit Sehbeeinträchtigung, ein Verein der „Rollikits“ heißt, Regenbogen und viele andere,
wollten diesen sechs Kilometer langen Lauf nicht gegeneinander, sondern Miteinander und füreinander bewältigen.
Ob im Rollstuhl, im Liegerad, mit Prothesen, Stöcken oder anderer Einschränkung, war der Weg das Ziel.
Als wir gemeinsam am Startplatz eintrafen, schlug uns sofort eine unglaubliche Stimmung und Fröhlichkeit entgegen.
Einige der Teams wurden über Lautsprecher vorgestellt. Da wurde unmittelbar wieder klar, wie viel Diversität unsere Gesellschaft zu bieten hat. Ich bin immer wieder erstaunt ob der Anzahl an Organisationen und Einrichtungen, die es alleine nur in Karlsruhe für Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen gibt.
Aber nicht nur Menschen mit Einschränkungen waren zu sehen. Sowohl beim Marathon, als auch beim Inklusionslauf konnte man andere Sprachen hören und Menschen mit anderer Hautfarbe wahrnehmen. Gerade für Migranten und Flüchtlinge sind solche Veranstaltungen eine ideale Chance der Inklusion, weil sie sprachliche,soziale und ethnische Benachteiligungen überwinden helfen.
Hintergrund
Und diesmal stand der lauf ganz im Zeichen der Pandemie und möglicherweise auch des unsäglichen Krieges in Europa.
Überall konnte man Erleichterung hören, dass nun endlich mal wieder so ein Lauf möglich sei. Sätze wie
„Seit über zwei Jahren konnte ich nicht mehr trainieren“,
„Endlich komme ich mal wieder unter Leute“,
„Ich bin fast durchgedreht vor Einsamkeit und weil ich so eingesperrt war“
habe ich am Startplatz von allen Seiten vernommen.
Endlos könnte ich hier fortfahren. Wenn alle Welt z. B. im Sommer 2020 von „Lockerungen“ sprach und glaubte, man dürfe jetzt wieder alles machen, dann war das und ist es noch immer für viele Menschen mit Beeinträchtigung nicht der Fall.
Viele leben in Einrichtungen, wo sie versorgt werden. Man durfte sich nicht besuchen. So war beispielsweise an ein Weihnachtsfest 2020 überhaupt nicht und 2021 nur sehr eingeschränkt zu denken.
Viele gehören zur Risikogruppe, so dass sie sich ganz besonders schützen und isolieren mussten, und teilweise noch immer müssen.
Man kann von beschützenden Werkstätten für Menschen mit Behinderung halten, was man will. Es gibt an diesem System in der Tat sehr viel zu kritisieren, was wir aber heute nicht tun werden.
Vielen Menschen gibt so eine Einrichtung oft die einzige Tagesstruktur, die sie haben. Sie gehen gerne dort hin. Sie treffen andere Menschen und können ihre Bedarfe leben. Viele Monate waren diese Werkstätten komplett geschlossen. Wie erklärt man einem Menschen mit einer geistigen Behinderung,
- wieso es jetzt erst mal lange Zeit nicht zur Arbeit geht,
- wieso wir eben die Oma nicht mehr besuchen,
- wieso die Sportgruppe ausfällt
- und wieso es keinen Nachmittag mit Kaffee und Kuchen mehr gibt.
Wenn der Geist das nicht erfassen kann, dann erfährt die Seele derlei um so direkter. Häufig funktioniert ja auch der Rückkanal nicht, so dass die betroffenen Menschen ihren Schmerz nicht teilen können.
Andere von uns wurden diskriminiert.
- Keine Haushaltshilfe mehr, weil sie zur Risikogruppe gehört,
- keine Einkaufshilfe im Laden,
- Probleme mit dem Abstandhalten,
- monate langes Homeoffice
betrafen andere, die vielleicht noch mobiler und selbstständiger ihr Leben gestalten können.
Vor diesen Hintergründen und Schicksalen muss man diesen Lauf sehen.
Ich schrieb über meine persönliche Situation in meinem Corona-Report. Aber genug davon. Jetzt wird gelaufen.
Der Lauf
Was für eine Befreiung. Welche Freude und welche Wärme uns da gestern sofort wieder entgegenschlug, war, und das meine ich genau so, wenn es vielleicht auch etwas kitschig klingen mag, zum weinen schön.
Ich war freudig gerührt, und meiner sehenden Kolleging ging es ebenso.
Endlich fiel der Startschuss und es ging los.
Wir hatten uns, wenn überhaupt, zum Ziel gesetzt, unter eine Stunde zu kommen.
Das erreichten wir schließlich auch.
Die Stimmung auf der ganzen Strecke war großartig. Immer wieder gab es Schausteller und Gruppen, die mit Trommeln, Musik und Applaus einen wieder anfeuerten, oder mit frischen Getränken willkommene Stärkungen darreichten.
Der Sports- und Kampfgeist wehte überall.
Für viele Teilnehmende mit vor allem geistigen Beeinträchtigungen ist so ein Lauf oft eine von sehr wenigen Gelegenheiten des Jahres, mal aus der Tristesse des Alltages zwischen Wohnheim und beschützender Werkstatt, auszubrechen, sich und ihren Körper anders zu erleben und das Gefühl eines Erfolges zu verspüren.
Da wird ungefiltert vor Freude gelacht, gejauchzt, geschrien und umarmt. Da werden im Überschwang von Freudenausbrüchen Sprints hingelegt, welche die Begleitpersonen ohne Einschränkung verzweifelt mit flehendem Blick zurücklassen, er oder sie möge bald vor Erschöpfung wieder langsamer werden.
Nicht sichtbar sind im Alltag die sehr zahlreichen “unsichtbaren” Beeinträchtigungen, die Betroffene nicht minder einschränken können. So sind beispielsweise psychische Beeinträchtigungen oft nicht wahrnehmbar, und ermangeln häufig gesellschaftlicher Toleranz und Akzeptanz. Auch diesen Grupierungen bietet so ein Lauf die Chance für den Schritt in die Öffentlichkeit.
Meine Kollegin und ich waren durch ein etwa 20 cm langes Seil verbunden, das an den Enden Holzgriffe hatte, von denen jeder von uns einen in der Hand hielt.
Das ermöglicht zum einen Armfreiheit für beide Läufer und zum anderen kann die sehende Begleitperson durch Zug am Seil Richtungsinformationen geben.
Wir hielten über die ganzen sechs Kilometer ein recht strammes Tempo durch und sparten Kraft, indem wir nur dort kleinere Sprints hinlegten, wo man befürchten musste, fotografiert oder gefilmt zu werden, oder, wo besonders häftig applaudiert wurde, und die Stimmung super war.
Und so kamen wir dann mit erreichtem Vorsatz, nach einer Zeit von 51 Minuten und 19,8 Sekunden im Ziel an.
Fazit
Eines ist sicher. Dieser Lauf dürfte für viele Menschen mal wieder einer der glücklichsten Momente ihres Lebens gewesen sein, denn sie in den letzten Jahren erleben durften.
Hier wurden Leistungen und persönliche Rekorde und Erfolge erzielt, die einem lange durch den nicht immer einfachen Alltag tragen.
Für meine Kollegin und mich hat es sich sehr gelohnt, bei diesem Inklusionslauf mitzumachen. Derlei Veranstaltungen sollte es öfter geben, damit vor allem diejenigen Mitmenschen, die wegen einer sozialen, gesellschaftlichen, körperlichen oder seelischen Einschränkung in Werkstätten, Kliniken, Wohnheimen oder sonst wo versteckt leben müssen, stärker ins Bewusstsein rücken. Es geht hier weniger um diejenigen Menschen mit Einschränkung, die heldenhaftes leisten, sondern um die Antihelden in dieser Gesellschaft, die hier durch so einen Lauf Gemeinsamkeit, Wertschätzung und Zugehörigkeit erleben können.
Außerdem setzt so eine Veranstaltung Zeichen gegen Faschismus, Ausländerhass etc.
Wir sind mehr und wir wollen Inklusion,
Diversität und Inklusion bereichert unser Leben in allen Belangen. Und sind wir mal ehrlich. Jeder von uns hat doch irgendwo eine Beeinträchtigung. Wenn wir das kapierren, wenn wir hier den Schalter im Kopf umlegen, dann haben wir verstanden, worum es bei all dem geht.
Super Beitrag! Wäre ich noch in Karlsruhe, wäre ich mitgelaufen.
Meine Lieblingsstellen:
„Man wird ja nicht durch “sehen” geschädigt, nicht war?“
Das kommt mir aber manchmal so vor… 😉
„[…] sind wir mal ehrlich. Jeder von uns hat doch irgendwo eine Beeinträchtigung.“
Wenn sich dessen jede* bewusst wäre…
Ein großartiger Beitrag Gerhard,
ich bin selber Hobbyläufer und hätte sehr gerne auch als Begleitperson mitgemacht, so viel Lust hat mir dein Artikel bereitet – und wie Du dieses Event in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einordnest ist einfach Klasse – mach weiter so!
Hallo Gerhard,
beim Lesen kann man so richtig Mitfreude empfinden über diese mehr als gelungene Veranstaltung!
Herzliche Grüße
Dein normalbehinderter uralter Lehrer
Dietmar