Inklusivurlaub am dunkelsten und stillsten Ort Deutschlands


Liebe leserinnen und leser,
heute teile ich mit euch mal wieder ein Urlaubserlebnis. Aber keine Angst, bissel Astronomie kommt auch vor, denn ein Urlaub ganz ohne, wäre kein Urlaub für mich…

Urlaub am dunkelsten Ort Deutschlands?

das kann mir doch eigentlich egal sein, wie dunkel es wo ist, denn bei mir ist auch tags über der dunkelste Ort, wo ich mich gerade befinde, weil ich zu 100 % blind bin.
Für Sehende bedeutet Blindheit immer Dunkelheit und Hilflosigkeit. Das ist absolut verständlich und nachvollziehbar.
Aber, wer nie Helligkeit gesehen hat. Wie kann es für so jemanden dunkel sein?
Ich habe Helligkeit gesehen, ohne Farben und doch etwas. Das ist jetzt aber meistens weg, obwohl ich manchmal Tage habe, wo ich noch etwas Licht sehen kann. Nützen tut mir das aber leider meistens nichts mehr. Niemals habe ich mich aber trotz des Verlustes meiner wenigen Sehkraft im Dunkeln gefühlt.
Dennoch hat mir mein früheres Sehen sehr geholfen. Ich sah doch so manches Hindernis, welchem ich ausweichen konnte.
Wie auch immer.
Wir blinden leben nicht in Finsternis. Und aus diesem Grunde bin ich Hobby-Astronom. Und darum ist es mir wichtig, dass es nachts dunkel ist, damit die Tierwelt die Nacht nutzen  und ich mit Astronomen Sterne beobachten kann. Damit Ruhe einkehrt, denn Lärm ist letztlich eine negative Seite des Sehens, weil Sehen oft überbewertet wird und unser Ohr zum Hilfsorgan degradiert wird, was wir am erbärmlichen Ton all abendlich erkennen können, indem wir dem extrem schlechten Klang unserer Fußballfeld großen Flachfernsehern lauschen, obwohl wir in einer Zeit höchst entwickelter Hifi-Technologie leben. Beobachtet mal mit den Ohren. Ihr werdet feststellen, dass nahezu alle Statussymbole, die zu ANSEHEn verhelfen, wie Sportwagen und Motorräder extrem viel Lärm produzieren…
Diese Tatsachen sind Grund genug, sich auf das Abenteuer, ohne Begleitperson zu begeben, und an den dunkelsten und auch einer der stillsten Orten Deutschlands zu fahren,
sich auf eine Familie einzulassen, die ich nur per Mail kannte,
sich hinein zu wagen, auf eine ungewisse Reise.

  • Wird das mit der Umsteigehilfe funktionieren?
  • Ist Familie Zemlin auch nett, sensibel genug und respektvoll  zu mir?
  • Komme ich im Haus alleine ohne Begleitperson zurecht?

Ja, derlei Fragen und noch viele mehr stellt man sich vor so einem Abenteuer. Da geht dann schon mal der Atem schneller, und trotzdem habe ich es gemacht.
aber alles der Reihe nach.

Wie alles begann

Schon seit vielen Jahren bin ich sehr gut mit dem Entwickler des mittlerweile sprechenden Handplanetariums
Universe to Go befreundet.
Ich stehe ihm beratend zur Seite, wenn es darum geht, dieses Handplanetarium so zu entwickeln, dass auch blinde Menschen den Sternenhimmel akustisch erfassen können. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas grafisches für unseren Personenkreis umsetzbar wäre, aber es geht…
Dieser Freund kennt Familie Zemlin aus Lochow bei Rathenow, die einige Ferienhäuser betreiben.
Fam. Zemlin ist es ein Herzensanliegen, auch barrierefreie Angebote für Menschen mit Behinderung vor zu halten. So vermittelte mein Astrofreund Martin den Kontakt zwischen mir und den Zemlins, in der Hoffnung, ich könnte hier vielleicht etwas beratend bei Seite stehen.

Nun wurde ich vor einiger Zeit von Fam. Zemlin eingeladen, bei Ihnen mal einen Probeurlaub sozusagen zu erleben. Ziel war und ist es, herauszufinden, was im Bereich der Barrierefreiheit in meinem Fall für blinde Menschen noch verbessert werden könnte.
Es sind ja oft nur Kleinigkeiten, die nicht viel Geld kosten, die eventuell aus quasi Abfällen gebastelt werden können, die nicht technisch kompliziert sind und die doch manchmal wirkungsvoll, nützlich und im Extremfall vielleicht sogar lebens rettender sein können, als ein hoch technisches unbezahlbares Hilfsmittel.
Ein Aufkleber, um etwas zu kennzeichnen, ein markierter Schalter, Markierungen an Kochherd oder Spülmaschine, ein Läufer auf dem Fußboden, der einem z. B. davor bewahrt, in eine große Pflanze hinein zu laufen, können so hilfreich sein und bedürfen keines besonderen Wissens oder technischer Kunstgriffe.
Um es vorweg zu nehmen. Ich bin der Überzeugung, dass wahrscheinlich 90 % der Barrieren durch Empathie und Brücken der Liebe überwunden werden, weil man sich in dem Fall in sein Gegenüber hinein versetzt und selbst auf Ideen kommt, wie die Welt barrierefreier werden könnte.
Es muss überhaupt nicht perfekt sein. Es muss nur eben gemacht werden.
Bei Fam. Zemlin ist diese Nächstenliebe absolut vorhanden und auch die Beobachtungsgabe und Sensibilität, sein Gegenüber ganzheitlich wahrzunehmen mit allen Eigenschaften, also auch mit der Einschränkung, die lediglich eine Eigenschaft von vielen anderen ist…

Die Ankunft

So organisierte ich also die Fahrt nach Rathenow, wo Detlef mich abholen sollte. Für die Züge hatte ich Umsteigehilfen bei der Bahn gebucht. Großartig, dass das jetzt alles so online geht.
Die Fahrt nach Rathenow war lang, aber nicht langweilig. Viel Zeit für Hörbücher.
Detlef und seine liebe Frau, Liane, standen schon am Gleis und nahmen mich direkt herzlich und liebevoll in Empfang. Überhaupt sind die beiden so, als hätten sie täglich mit Menschen zu tun, die blind sind. Das ist es eben, was ich mit Brücken der Liebe meinte. Es gibt Menschen, die können mit uns von Natur aus umgehen, und solche, die trotz fachlicher Qualifikation, Lehrgängen und Dunkelseminaren, es nie schaffen. Für alle, die Scheu und Berührungsängste mit uns haben, sei gesagt:
Es geht einfacher, als man denkt.
Wenn ihr die drei Punkte, „Fragen, Denken und helfend handeln“ beachtet, könnt ihr nur noch wenig falsch machen.

Zunächst gingen wir erst mal einkaufen, weil man sich in Lochow selbst versorgen muss. Schnell hatten wir uns darüber abgestimmt, was wir frühstücken und zum Abendbrot essen würden.
Es war klar, dass wir unser Mittagessen irgendwo draußen während unserer Ausflüge, einnehmen würden.
Das Angebot, mit Fam. Zemlin gemeinsam essen zu dürfen und nicht alleine im Ferienhaus, nahm ich gerne an. Das machte vieles einfacher und mir blieb kochen, spülen etc. erspart. Von der Ausstattung her wäre es aber kein Problem gewesen, dass man sich als blinder Mensch, bzw. mit einer Gruppe im Haus selbst bekocht. Dazu nachher mehr.

Die Unterkunft

Angekommen an meinem Ferienhaus fand mein Blindenstock gleich tastbare Leitlinien am Boden und eine Rampe als Alternative zur Treppe. Die Rampe hat seitliche Ränder, so dass man nicht daneben treten kann.

Blindnerd auf der Rampe vor dem Ferienhaus
Vor dem Haus auf Rampe

Die Türklingel ist mit Punktschrift beschriftet, so dass man nicht ausversehen Licht macht, das man nachher zu löschen vergisst, weil man es nicht sieht.
Im Haus fielen mir zunächst die Schiebetüren auf. Ich liebe Schiebetüren. Der Feind eines jeden Blinden sind halb geöffnete Klapptüren oder Fenster, in welche man hinein laufen und sich ernstlich verletzen kann.
Alle Türen waren in der Nähe der Klinken und zusätzlich noch weiter oben, wo in der Regel die Schilder für Sehende angebracht sind, in Punktschrift beschriftet, so dass man weiß, welches Zimmer dahinter liegt.
OK, beim ersten Betreten des Hauses rennt man erst mal in eine Insektentür, weil man die durch ihre feine Netzstruktur nicht hört. Daran tut man sich aber nicht weh, und nach dem ersten mal weiß man es ja dann. Und keine Schnaken im Haus zu haben weiß jeder zu schätzen, der am Wasser wohnt…
Der Grundriss des Hauses ist sehr einfach und ich konnte mich sehr leicht und ohne Barrieren orientieren. Das Haus hat nur ein Stockwerk.
Der Wohnbereich ist super gemütlich.
Ob der Fernseher blind bedienbar ist, weiß ich leider nicht, weil ich ihn nicht benutzt habe.

die Küche ist besser eingerichtet, als die meine.
Der Herd ist ohne Markierungen bedienbar, weil die Knöpfe so geformt sind, dass man ungefähr an deren Stellung erkennt, wie hoch man ihn gedreht hat.
Die Spülmaschine habe ich nicht benutzt. Vermutlich müsste man hier noch Tasten markieren, um sie bedienen zu können.

die Schlafräume sind klasse und das Badezimmer ist vollkommen barrierefrei.

Die Wege zwischen den Häusern und zum Haus der Zemlins sind momentan für blinde Menschen noch schwierig, ohne Begleitung zu gehen, weil man sie nicht wahrnimmt. Das Gehen fühlt sich an, als wäre man am Strand, weil der Boden sehr sandig ist. Ein großartiges Geh-Gefühl.
Das sollte, wenn es wärmer ist, eine wunderbare Barfuß-Erfahrung sein.
Hier könnte man sich z. B. mit einigen Markierungen mit dem Handy und der App Myway behelfen.
Die Außenorientierung ist noch in der Planungs- und Entwicklungsphase.

Die erste Nacht

Überwältigend war für mich die absolute Stille in der Nacht. In der ersten Nacht war es für mich etwas unheimlich. Zum einen deshalb, weil ich eben alleine in diesem Haus war und wusste, dass ich mich draußen nicht auskenne. Naja, es war ein Telefon vorhanden, mit dem ich Fam. Zemlin hätte anrufen können.
Die Stille war wirklich, naja, was soll ich sagen, sehr laut und erdrückend. Wir sind das nicht gewohnt, dass es wo so still sein kann. Ich musste leise Hörbuch an machen, damit ich etwas hören kann. Obwohl ich selbst auf dem Lande wohne, wo es schon sehr still im Vergleich zur Stadt ist, muss ich sagen, dass ich im Gegensatz zu dort, in purem Lärm lebe. In der zweiten Nacht war die Beklemmung dann verflogen. Ich hatte mich daran gewöhnt. Ich zog sogar in Erwägung, die Batterie aus der Wanduhr des Wohnbereichs zu nehmen, weil ihr Ticken durch das ganze Haus „hämmerte“.
Ach ja, in der ersten Nacht hatte ich einen kleinen Störenfried im Haus. Ein Rauchmelder meinte, er müsste mir so ab 04:00 Uhr Morgens mitteilen, dass seine Batterie am Ende wäre. Dieses Geräusch dürften viele von euch kennen. Das kann man nicht voraus sehen. Das kommt halt, wenn es kommt. Detlef schaffte dann am nächsten Morgen diese Unruhe rasch aus dem Haus.
Was ich bei dieser Stille absolut bestätigen kann, ist, was viele Mönche sagen. Man hört die eigenen Gedanken unheimlich laut. Sie springen, will man sie stumm schalten, wie Kinder jauchzend und schreiend ins Schwimbecken des eigenen Kopfes, tummeln sich und machen unglaublichen Lärm. Das wird aber nach einiger Zeit besser. Auch dieses ist ein Grund, sich mal hier in Urlaub zu begeben. Ich kann mir keinen Ort vorstellen, wo man sich besser entschleunigen könnte.
Als ich dann in der zweiten Nacht empfänglich und offen für diese Stille war, hörte ich unheimlich viel.
Das Knistern meiner brennenden Zigarette tönte, wie ein prasselndes Kaminfeuer. Dazwischen hörte ich noch einige Nachtvögel und den Fuchs bellen. Kann sein, dass auch noch ein Marder oder Waschbär raschelte. Zumindest habe ich so was gehört.

Freizeit mit Fam. Zemlin

Neben intensiven Gesprächen über Barrierefreiheit und weitere Themen durfte ich mit Detlef zwei wunderbare Ausflüge machen.
Wir besuchten das Otto-Lilienthal-Museum, die Theodor-Fontane-Ausstellung und ein sehr spannendes Optik-Museum, wo man viel anfassen konnte.

Zeigt mich mit einem Gleiter-Modell in Händen
Betasten eines Gleiters

Gleiter mit Puppe
Gleiter mit Puppe

Lilienthal war der Flugpionier der Menschheit.
Fontane kennen wir noch durch sein Gedicht „Der Birnbaum“ und durch vielleicht den Roman Effi Briest, durch den viele von uns auf dem Gymnasium hindurch sich noch quälen mussten. Für mich war das damals schwer, weil ich mit derlei Literatur so absolut nichts anfangen konnte, aber mit zunehmendem Alter, finde ich das gar nicht mehr so schlimm…
Das Optik-Museum lohnt sich auch sehr. Unglaublich, wie man damals optische Elemente herstellen musste, und wieviel handarbeit alleine schon für eine Brille nötig war.
Betasten eine Glasschleif-Maschine von 1915
Glasschleif-Maschine von 1915

Mehr will ich aber hierzu nicht verraten, denn ihr sollt ja nach Lochow in Urlaub fahren, und das alles selbst erleben.

Ein Highlight war zweifellos der Besuch eines Sees bei Sonnenuntergang, an und auf welchem tausende Kraniche und Gänse landeten um dort zu nächtigen. Das war ein Geschnatter und Geflatter. Großartig!!!
Hört mal, Kraniche über Lochow.
Und so klingen die Gänse:
Audio, Gänseeinfall über dem Gülper See

Zu Tränen gerührt war ich, als Detlef mir nachts den Sternenhimmel beschrieb. Alle verdächtigen Sterne waren am Himmel. Die Milchstraße war quasi von Horizont zu Horizont sichtbar. Unglaublich, wie dunkel es hier ist. Ich fühlte mich unter diesen Sternenhimmel mit Detlefs Beschreibungen, wie in einer Kathedrale, Irgendwie der Schöpfung ganz nah und verbunden.
Natürlich kommen hier viele Astronomen genau deshalb her, weil man hier so wunderbar den Sternenhimmel beobachten kann.

Meine große Bitte zu Weihnacht und darüber hinaus

Bitte, liebe Leserinnen und Leser, überlegt euch wirklich, gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit, welche Lichter ihr wirklich die ganze Nacht durch brennen lassen wollt. Es ist absurd, aber ich kenne Sehende, die zur Weihnachtszeit ihr ganzes Anwesen weihnachtlich beleuchten, um dann das eigens erzeugte unnötige Licht mittels Rollläden des nächtens auszusperren. Aber auch ohne Weihnachten. Macht es bitte so dunkel, wie ihr könnt. Tiere, Astronomen, aber auch unsere Gesundheit, werden es uns danken.
Vielen Dank.

Fazit

Momentan würde ich blinden Menschen eher noch nicht empfehlen, ganz ohne Begleitperson dort hin zu reisen. Beim Einkauf etc. sind aber Fam. Zemlin gerne mit dem Auto behilflich, denn manch andere Gäste, auch ohne Einschränkung, kommen auch ohne Auto.
Eine Gruppe von blinden Menschen mit einer sehenden Begleitung könnte sich aber in so einem Ferienhaus sehr wohl fühlen. Man kann viel laufen, kann sich Tandems leihen, kann die Stille genießen und vieles mehr.
Ich bin davon überzeugt, dass sich hier noch etwas ganz wunderbares entwickeln wird und weiß für mich, dass ich nicht zum letzten mal bei den Zemlins war.
Ich möchte dort etwas inklusives zu Astronomie anbieten.
Einige Tage Klausur, um in aller Ruhe Musik zu machen, wäre auch ein denkbarer Urlaub für blinde Menschen.

Wer sich für mehr interessiert, findet hier Befriedigung.
Naja, vielleicht trifft man sich ja mal an diesem wunderbaren Ort.

Bis zum nächsten mal grüßt euch herzlich
Euer Blindnerd Gerhard Jaworek.

2 Gedanken zu „Inklusivurlaub am dunkelsten und stillsten Ort Deutschlands“

  1. Hallo Gerhard,

    ich sitze gerade im ersten Tag meiner zweiten Quarantäne in Greifswald in meiner WG fest und habe mal wieder nach stillen, dunklen Orten in Deutschland gesucht, an denen ich meine Wohngemeinschaft gründen möchte. Bei dieser Recherche bin ich auf diesen, also deinen Bericht gestoßen und war schnell fasziniert. Von dem was du schreibst, aber auch von deiner Perspektive auf die Welt. Vielleicht werde ich die Quarantäne nutzen um selbst einmal zu versuchen mehr zu hören und mein Gehör nicht als „Hilfsorgan“ zu nutzen. Danke für diese Inspiration. Und ich habe große Lust bekommen den Naturpark Westhavelland zu besuchen. Ganz liebe Grüße,
    Nikolas

    1. Hi, Das rührt mich, dass Du meine Inhalte gefunden hast, und dass sie Inspiration für Dich sind. Lange schon zieht es mich mal nach Greifswald. Ich möchte gerne mal den Wendelstein besuchen, wo man versucht, das Sonnenfeuer zu zünden.

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