Bladventskalender22, 24.12. Mein schönstes Weihnachtsgeschenk


Meine lieben,
es ist nun so weit. Wir sind am letzten Türchen unseres Adventskalenders angekommen. Seit 24 Tagen begleitet ihr mich durch diesen Kalender. Nun ist das gar nicht so einfach, eine Geschichte zu finden, die zum einen dem heiligen Abend angemessen, und zum anderen vielleicht doch auch etwas astronomisches zu bieten hat.
Da erinnerte ich mich an ein Weihnachtsgeschenk, das ich im letzten Jahr ganz unverhofft erhalten habe. Dieses Geschenk und die Geschichte dazu teile ich heute hier mit euch.

Die Ankunft

Kurz vor Weihnachten erhielt ich plötzlich einen Anruf meines ehemaligen Schulmeisters, Mentors, Freund und noch immer Chorleiters.

Anstatt musikalischer Dinge fragte er mich plötzlich, an welche Adresse er mir etwas schicken könnte. Er habe ein etwa 50 cm im Quadrat großes Paket für mich und würde mir das gerne schicken. „Du liebe Güte“, dachte ich. Was soll das denn sein. Liedtexte in Punktschrift schieden aus, denn die schickt er mir elektronisch und ich drucke sie dann. Verstärkt wurde die Spannung noch dadurch, dass er darum bat, dass wir das Paket gemeinsam öffnen, also ich solle ihn anrufen, und er leitet mich an, wie das Teil zu öffnen sei.

Er nannte seine Verpackung „Böhringer-Verpackung“, so heißt er, und ich kann euch sagen, das ist sie auch.
Nach wenigen Tagen erhielt ich nun dieses große, flache Etwas.
„Will er mir jetzt ein Bild schenken?“ war mein erster Gedanke. Das wäre ja dann vielleicht nicht ganz das passende Geschenk für einen Blinden. „nein, das kann ich mir nicht vorstellen“, aber wie ein gut verpacktes Bild fühlte es sich tatsächlich an. Die Verpackung besteht aus einem Holzrahmen aus vier Leisten, einer Rückwand aus Karton, einem Deckel auch aus Karton und alles war äußerst raffiniert und kunstvoll mit hochwertigem Tape verklebt. Nicht zuletzt hatte das Paket noch eine Trageschnur. Ich hielt meine Neugierde aus und wartete auf seinen Anruf, damit wir den Schatz gemeinsam heben würden, wie ich es ihm versprochen hatte.

Die Schatzhebung

Sein Anruf kam Allerdings zunächst etwas ungünstig, da mir wenige Minuten vorher ein Bote etwas anderes flaches in einem Karton vorbei brachte, eine Pizza. So vertröstete ich Dietmar auf später, öffnete ein Fläschchen wein und versorgte die Pizza in meinem Bauch. Dann suchte ich meine Ausrüstung,

  • Messer,
  • Schere,
  • Headset für die freien Hände,
  • Telefon,
  • mein Weinglas, das Teleskop des blinden Astronomen
  • das Paket

zusammen, setzte mich aus Platzgründen auf meinen Wohnzimmerteppich und rief ihn an. Ich hatte mir schon ausbedungen, wo ich das Messer zuerst ansetzen würde. Sofort kam von ihm die Warnung, dass ich um Himmels willen nichts und nirgendwo schneiden solle. „Wie soll das dann aufgehen“, dachte ich mir. „Hat er dafür einen Zauberspruch?“
Nein, den hatte er nicht, sondern etwas viel besseres. Er dirigierte meine Hände über den Deckel des Paketes, indem ich zuerst den Ausgangspunkt, den Adressaufkleber finden sollte. Von dort aus ging es dann in verschiedene Richtungen an die Ränder des Paketes, wo ich die Verklebung fühlen konnte. Und was war das. Da gab es wirklich nichts zu schneiden. Dietmar hatte die Tapestreifen so verlängert, dass er sie zu Laschen umschlagen konnte. Ein kurzer Ruck an jedem, ein deutlich hörbares Ratschen und der Klebestreifen ließ sich rückstandsfrei öffnen. Es war halt sehr gutes Klebeband.

Also, nun waren alle Laschen gelöst und ich konnte den Deckel von mir weg aufklappen.

Die Erkundung

Nun tastete ich und tastete, fühlte dicke und dünnere Punkte auf Folie, manche davon waren durch Striche miteinander verbunden, und bei genauerem Tasten fand ich sogar Beschriftungen in Punktschrift.
Und da durchfuhr es mich. Ähnlich dem klaren und lauten C-Dur-Akkord, der in Joseph Haydns Schöpfung heraus bricht, als „Es werde Licht“ gesprochen wird, bei dem es mir immer, wenn ich nur an diesen Klang denke, kalt den Rücken herunter läuft, so geschah es mir auch jetzt. Mit Wucht und Klarheit traf es mich. Was hier vor mir auf dem Boden lag, ist eine taktile Sternnkarte. „Wo hat er die denn jetzt wieder ausgegraben“ fragte ich ihn. Ihr müsst wissen, dass solche tastbaren Sternenkarten äußerst selten sind, fast so selten wie die Zauberringe der Elben aus Herr der Ringe und aus dem kleinen Hobit.

Sie sind äußerst schwer herzustellen.

Der Fund

Also, nun lag dieses sehr aufwändig hergestellte Geschenk vor mir und ich war den Tränen vor Rührung nahe und musste erst mal an meinem Weinchen nippen.

  • Wie kam ich zu der Ehre, dass mein Freund mir eine solche Karte schenkt?
  • Wo hat er sie gefunden?
  • Wie alt mag sie sein?
  • Gibt es die Vorlage dafür noch?
  • Lebt der Hersteller der Vorlage noch?
  • Wie kann ich demjenigen danken, der die Kopie für mich gezogen hat
  • Wie kann ich Dietmar und den hilfreichen Personen das je danken?

Das waren so Fragen, die mir da demutsvoll durch den Kopf gingen.
Es ist so, dass es vermutlich an nahezu allen Blindenschulen noch Speicher, Keller und Abstellräume gibt, wo noch derlei Schätze lagern. Heute lagern die Modelle nur noch auf Festplatten von Computern oder in Clouds, damit sie für die Nachwelt verfügbar bleiben.
Dietmar interessiert sich schon immer, schon auch als Historiker, für alte Sachen. Er findet solche Schatzgruben und hütete sie auch, als er noch nicht pensioniert war.
Er hütete sie nicht nur, sondern verwendete sie in seinem Unterricht.
In solch einem Archiv stieß er wohl auf die Vorlage zu dieser Sternenkarte. Da das Modell noch in Takt schien, wendete er sich an einen Lehrer, einem Bruder im Geiste, der noch an dieser Schule arbeitet und bat ihn, einen Folienabzug von dieser Karte extra für mich zu erstellen.

Wer das Modell, ich vermute mal in den siebziger Jahren des letzten jahrhunderts erstellt hatte, lässt sich leider nicht mehr genau sagen. Dieser Lehrer lebt mit Sicherheit auch nicht mehr. Es gibt mehrere Kandidaten, die dafür in Frage kämen, von denen mein pensionierter Freund noch welche kannte. Entweder ein Lehrer hat das Modell in seiner Freizeit erstellt, wie das noch zu meiner Zeit oft geschah, oder es gab auch Angestellte, die als Modellbauer an Blindenschulen arbeiteten. Heute heißen diese Zentren Medienzentren und deren Hauptwerkzeuge sind Computer und Spezialdrucker.

Der Pädagoge erwacht

Nun erzählte mir Dietmar, wie die Karte funktioniert. Zum Glück habe ich schon viel Erfahrung mit taktilen Sternkarten. Ich suchte sofort in ihrem Zentrum den Nordstern, den großen Wagen, der zum großen Bären gehört, die nördliche Krone und dann nach und nach die verschiedenen Sternbilder weiter außen. Bei den Tierkreis-Zeichen ist neben der Beschriftung in Punktschrift weiter außen noch ein Ring mit kleinen Modellen der Tiere angebracht, z. B. ein Fisch, ein Widder etc. So sprachen wir noch lange und erzählten uns auch gegenseitig unsere Eindrücke und auch Geschichten zu den verschiedenen Konstellationen. Mein Freund wollte absolut sicher gehen, dass ich alles auf dieser Karte erkenne. Er wollte sicher gehen, dass die Karte mich nicht enttäuscht. Ja, das dachte er wirklich. Ich weiß nicht wieso. Er ahnt nicht, oder vielleicht langsam, was für eine ungeheure Freude er mir da gemacht hat. Diese Karte ist weit mehr, als nur eine Sternkarte.

  • Sie verbindet mich mit ihm.
  • Sie verbindet mich mit dieser Schule. Ohne auf diese Schule gegangen zu sein, wäre ich niemals Astronom geworden.
  • Sie verbindet mich mit dem besten Physik- und Chemieunterricht, den ich je hatte. Ein ganzes Kapitel in meinem Buch, Blind zu den Sternen widmete ich diesem Unterricht, den ich an dieser Schule genießen durfte. Leider kann auch diese Lehrerin nicht mehr erleben, was sie mit ihren Stunden für einen Samen in mein Herz gesäht hat, und wie der aufgegangen ist.

Zusammenfassung, wie die Karte nun aussieht

Es gibt ganz unterschiedliche Sternkarten. Je nach dem, was man damit machen möchte. Ich besitze derlei vier, wenn ich die digitale Universe2Go-App dazu zähle.

Die einfachste Sternkarte, die ich besitze, kann ich eigentlich nicht nutzen. Man kann zwar die Leuchtfarbe und somit die Sternbilder ertasten, aber damit macht man sie auf Dauer kaputt, weil der Fingerschweiß sicherlich das Papier und diese spezielle Farbe zerstört.
Sie ist eine Tabelle aller Sternbilder. Sie ist auch ein wertvolles Stück aus der Zeitschrift Yps, die mein Jahrgang vielleicht noch kennt. Da waren immer so lustige Bastel-Sachen drin. Die Sternbilder auf dieser Karte leuchten nachts, wenn man sie z. B. mit einer Taschenlampe dazu anregt. Damit kann man eigentlich nur vergleichend nach dem suchen, was man am Himmel gerade gesehen hat. Somit ist sie eher nicht zur Orientierung günstig, denn aufgehende Sternbilder verändern ihre Winkel und welche, die nicht unter gehen, sieht man sogar auf dem Kopf. Wertvoll ist mir dieses gute Stück, weil ich es von einem Freund und ehemaligen Arbeitskollegen erhalten habe, der meinte, bei mir wäre es besser aufgehoben. Er liest hier mit, und somit brauche ich seinen Namen, er heißt Michael, hier nicht zu nennen. Ich bin stolz auf unsere Freundschaft und auf die Sternkarte natürlich auch. Leider habe ich noch kein Foto davon für euch. Müsste ich mal nachts machen lassen, wenn sie leuchtet. Ob das geht?

Die üblichsten Sternkarten sind rund und drehbar. die untere Scheibe zeigt, z. B. wie die Karte von Dietmar, den Nordhimmel. Damit man sich in diesem Wimmelbild besser zurecht findet, ist die Sternkarte mit einer Deckscheibe versehen, die eine Öffnung hat. Außen, wo sich die Tierkreiszeichen befinden, verfügt so eine Planasphäre noch zwei ringförmige sie umlaufende Skalen. Hier kann man Monat, Tag und Urzeit der Beobachtung einstellen. Oft auch nur Monat und Tag. Dann werden von der oberen Scheibe alle Sterne abgedeckt, die man zu dieser Einstellung eben nicht sehen kann. Dann findet man sich schon etwas besser zurecht.

Solch eine alte taktile Karte besitze ich auch. In der Schweiz hat sich vor sicher mehr als vierzig Jahren mal jemand die Mühe gemacht, so etwas für uns Blinde zu erstellen. Auch ich habe diese Karte aus dem Speicher unseres Institutes vor vielen Jahrzehnten gerettet. Ansonsten wäre sie längst schon verfallen. Ihre Folie wird schon langsam brüchig, und ich zeige sie nur noch ganz Hand verlesenen leuten.
Ihr, liebe Leser*innen gehört natürlich dazu. Hier ein Foto, wie ich mit der Karte arbeite.
Wie ich die Sternenkarte abtaste

An der Sternwarte St. Andreasberg ist eine sprechende Himmelsscheibe entstanden, die auf so einer Karte beruht. An deren Entwicklung war ich nicht beteiligt, aber ein blinder Physiker aus Kiel und der Verein Andersicht e. V., dessen Mitglied ich bin.

Nun ja, und jetzt haben wir eben noch die neueste wunderbare historische Karte aus der Nikolauspflege, gefunden von Dietmar, Kopiert für mich von einem Lehrer, der noch an dieser Schule arbeitet und gezeigt und präsentiert von mir.

Ihr könnt sie euch so vorstellen, wie das untere Blatt einer drehbaren Sternkarte. Sie hat außen keine Zahlen, um Datum und Urzeiten einzustellen und auch kein rundes Deckblatt, was einem den gewünschten Himmelsausschnitt zeigt.

Ich hoffe, dass man sie auf den Fotos gut sehen kann, denn sie ist ja nur taktil und einfarbig.
Ausschnitt Kartenzentrum

Ganze Karte

So, meine lieben.
Das war alles, ihr Leute,
das war alles für heute,
das war ein teil aus meinem Repertoire.

Dieser Artikel gebührt der Ehre für

  • Dietmar Boehringer, der die Idee hatte, mir von seinem Fund eine Kopie ziehen zu lassen.
  • Sie gebührt auch dem Lehrer, der die Kopie zog, und deshalb noch mein signiertes Buch erhalten wird,
  • meinem Freund Michael, der mir die Yps-Karte überlies,
  • dem Speicher unseres Institutes, der die drehbare Karte für mich bewahrte
  • vielen Mitarbeitern unseres Institutes, die mit mir gemeinsam meine taktilen Astromappen und Modelle entwickelten
  • meinen Vorgesetzten, die das alles mit tragen
  • Martin, der mit mir gemeinsam Universe2Go auf eine Ebene hebte, dass Orientierung am Himmel für uns nun klare Wirklichkeit ist.

Diese alle haben für uns blinde Menschen ein Tor geöffnet, das Tor zum Himmel.

Jetzt wünsche ich euch ein frohes, gesegnetes und geruhsames Weihnachtsfest.

Ein Gedanke zu „Bladventskalender22, 24.12. Mein schönstes Weihnachtsgeschenk“

  1. Lieber Gerhard,

    es ist ja schon ein bisschen zu viel der Ehre, die du mir und meinem etwas unüblichen Geschenk zukommen lässt. Dass ich dir damit eine so große Freude gemacht habe, freut mich aber natürlich sehr!

    Der freundliche Kollege, der die Kopie gefertigt hat, ist seit einigen Monaten auch pensioniert. Er war vermutlich der letzte, der jene große Illig-Tiefziehmaschine bedienen konnte. Wahrscheinlich wird sie im Zuge der aktuellen Baumaßnahmen ausgeschieden. Die moderne Zeit bringt auch Verluste, die manchmal schmerzlich sind – neben enorm vielen Verbesserungen für blinde Menschen, für die wir dankbar sein müssen!

    Herzliche Weihnachts- und Neujahrsgrüße
    Dietmar

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