Meine Lieben,
heute habe ich die Ehre, einen weiteren blinden Hobbyastronomen hier als Gast begrüßen zu dürfen. Wir kannten uns bisher nicht persönlich. Sein Name tauchte manchmal in diversen sozialen Medien auf. Aufmerksam wurde ich auf ihn durch einen Artikel, den er im Newsletter von Blindzeln.org veröffentlichte. Was die Blindzler sind und tun, beschrieb ich schon an anderer Stelle, wo es u. A. um den Arbeitskreis der blinden Autor:innen ging.
Sofort nahm ich mit diesem interessanten Menschen Kontakt auf, und bot ihm an, mein Gast sein zu dürfen.
Er sagte zu und erwies mir damit eine große Ehre.
Nun also die Bühne frei für meinen Mitbruder im Geiste, Hermann-Joseph Kurzen.
Bis kurz vor der Erlangung der Mittleren Reife konnte ich noch sehen. Damals betrug mein Sehrest noch ca. 10 %. Zu jener Zeit kannte ich den Spruch „Unter den Blinden ist der Einäugige König“ noch nicht. Das ist jetzt rund 50 Jahre her. Damals hatte ich einen Sportunfall und innerhalb von nur zwei Wochen war ich blind. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
An wissenschaftlichen sowie technischen Themen war ich eigentlich schon immer interessiert. Und dafür habe ich einen nicht unbedeutenden Teil meines Taschengeldes ausgegeben. Es hat mich in der Schule immer geärgert, dass derartige Themen nur stiefmütterlich durchgenommen wurden. Und so bin ich gewissermaßen in die Welt der Technik und Wissenschaft hineingerutscht. Und mit diesem Wissen konnte ich auch gut angeben. Folgerichtig habe ich auch keine Gegenmaßnahmen unternommen. Genau das Gegenteil habe ich gemacht. So richtig haben das weder meine Lehrer noch meine Mitschüler verstanden. Aber das hat mich nur noch stärker motiviert. Einen Teil meines Kleiderschrankes habe ich dazu benutzt, um dort Bücher, Zeitschriften und kleinere Instrumente unterzubringen. Nur ein Astronomie-Diplom habe ich eingerahmt und an die Wand gehängt. Sinnigerweise habe ich mich für die Wand entschieden, die der Tür gegenüber war.
In der Schule lernt man zunächst in der Heimatkunde seine unmittelbare Umgebung kennen. Später kommt dann die Erdkunde hinzu. Und dann ging es bei mir privat weiter mit der Astronomie. Den Mond kannte ich ja bereits. Aber im Grunde genommen wusste ich nicht besonders viel über ihn. Fragen über Fragen tauchten in diesem Zusammenhang auf. Und in der Fachliteratur habe ich dann nach Lösungen gesucht. Bedingt dadurch wurde ich manchmal als „Professor“ bezeichnet. Man darf bei allem nicht vergessen, dass das Jahrzehnt war, in welchem die Amerikaner vollundig verkündet hatten, dass sie bis zum Ende des Jahrzehnt auf dem Mond landen wollten. Und so war ich endgültig verloren und habe mich dann eben auch noch mit der Weltraumfahrt beschäftigt. Ich habe dann sogar kleine Raketen gebaut, die ich aus Gegenständen des täglichen Lebens zusammengebaut habe, die jedoch nicht funktionstüchtig waren. So bestand beispielsweise der Raketenkörper aus einem Maßbecher aus Aluminium. Als Düse für den Raketenmotor habe ich die Tülle eines Heizkessels verwendet. Und es gab sogar eine Nutzlast. Dabei habe ich auf eine kleine Glühbirne zurückgegriffen, die normalerweise bei meiner Modelleisenbahn zum Einsatz kam. Natürlich fehlte auch eine Batterie nicht.
Und dann kam jener Tag, an dem ich beim Fussballspielen unbedingt ins Tor wollte. Und dann gab es jenen Elfer, der mir zum Verhängnis wurde. Dabei fing alles gut an, denn den Ball habe ich gegen die Stirn bekommen. Von dort aus landete er am Lattenkreuz, das damals noch aus Holz war. Anschließend trudelte der Ball ins Toraus.
Am Morgen des nächsten Tages sah ich im Winkel meines rechten Auges einen Fleck. Das war in etwa so, als ob ich eine Brille mit Gläsern in der Farbe Rosa aufgesetzt hätte. Im Laufe des Tages wurde das Rosa immer dunkler und am folgenden Tag war es bereits ein tiefes Dunkelrot. Auch konnte ich praktisch von Stunde zu Stunde beobachten, dass dieser Fleck immer größer wurde. Und dann ging es auch am anderen Auge los. Ein Besuch beim Augenarzt ergab dann, dass sich meine Netzhaut großflächig ablöste und sich schon richtige Blasen gebildet hatten. Heutzutage hätte man eventuell etwas mit einem Laser machen können. Doch damals steckte die dazu erforderliche Technik noch in den Anfängen. Ich hatte damals keine Chance und innerhalb von zwei Wochen war ich vollblind. Eine Welt ist in mir zusammengebrochen. Aber irgendwie musste es ja weitergehen, denn ich musste mich auf die Mittlere Reife vorbereiten. Das ist mir auch ohne Zeitverzögerung gelungen und so hielt ich wie vorgesehen dann das Zeugnis in der Hand. Da war ich stolz wie der berühmte Bolle. An die Astronomie habe ich in der Zeit nur sehr selten gedacht. Und wenn es doch mal dazu kam, dann waren es keinesfalls angenehme Gedanken.Und das Leben ging weiter. Fast stündlich lernte ich neue Dinge. Manchmal habe ich mich sogar darüber gewundert, was man selbst als Blinder so alles machen kann. Und irgendwann hatte ich auch wieder die Musse, mich mit der Astronomie zu beschäftigen. Ich habe nicht eingesehen, warum mein Wissen über die Astronomie in irgendwelchen grauen Gehirnzellen versauern sollte. Natürlich war die Versorgung mit Informationen nicht ganz so einfach. Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Informationen habe ich wie ein ausgetrockneter Schwamm aufgesogen. Dadurch hatte ich ein gutes Gehirntraining, von dem ich immer noch profitiere.
Wahre Freunde entpuppen sich erst in der Not. Und in Peter hatte ich so einen Freund. Fast unbemerkt habe ich ihn im Laufe der Zeit mit meinem Astronomievirus infiziert. Und als die Krankheit dann ausbrach, war es für eine Heilung viel zu spät. Wir haben dann das Beste aus der Situation gemacht und uns noch intensiver mit der Astronomie beschäftigt. Aber so eine wirkliche Ablenkung von dieser heimtückischen Krankheit war es nun beileibe nicht. Er hat sich immer wieder Literatur von mir ausgeliehen. Und eines Tages hatte er die Idee, dass er doch bestimmte Texte auf Cassette Aufsprechen könne. Dieser Gedanke war mir auch schon gekommen, aber ich habe mich nicht getraut, ihn daraufhin anzusprechen.
Kennengelernt habe ich ihn übrigens im Kino. Es wurde der Katastrophenfilm „Der Untergang Japans“ gegeben. Ich hatte mir eine Jumbotüte mit Popcorn sowie eine 2-l-Flasche Coca-Cola gekauft. Peter meinte, dass ich das doch unmöglich alleine vertilgen kann. Er erklärte sich bereit, mir bei der Vertilgung zu helfen, denn es wäre doch schade, wenn die Sachen verderben würden. In der Pause mussten wir uns dann Nachschub besorgen. Der Film beginnt übrigens mit einer Szene, in der ein U-Boot gezeigt wird, mit dessen Hilfe offensichtlich der Meeresboden untersucht wird. Dieser Eindruck wird dann in der folgenden Szene bestätigt, in der die Besatzung über „schwarze“ Raucher diskutiert. Schwarze Raucher, black smokers, sind kaminartige Hydrothermalquellen am Ozeanboden, die mit Eisen, anderen Metallen und Schwefelwasserstoff bzw. Metallsulfiden angereichertes heißes Wasser ausstoßen. Kommt das heiße Quellwasser mit dem sauerstoffreichen kalten Meerwasser zusammen, fallen rauchartige, schwarze Metallsulfide aus. Dadurch entstehen auch bis zu 15 m hohe Kamine, aus denen das ca. 350 °C heiße Wasser ausströmt. Überraschenderweise lebt im Umkreis dieser heißen Quellen eine Lebensgemeinschaft mit einer Vielzahl verschiedener Mikroorganismen und Tieren, zum Teil in engster Symbiose. Und plötzlich kommt Bewegung in die Geschichte, denn der Meeresboden bewegt sich und es steigen Schlammwolken auf. Der Kapität ordnet unverzüglich an, dass aufgetaucht werden soll. In der Folge gibt es mehrere Erdbeben und auch einige Vulkane brechen aus. Die Erdbeben und vulkanischen Aktivitäten sind besonders stark. Ganz Japan gerät in Panik und von China aus machen sich viele Schiffe auf den Weg, um möglichst viele Japaner zu evakuieren. Doch das war erst der Anfang. Einige Wissenschaftler kommen auf die Idee, Vulkane mit Atombomben zu bewerfen. Doch dann geht es erst so richtig los und die Lage gerät vollends außer Kontrolle.
Am nächsten Tag besuchte mich dann Peter. Und dabei erfuhr er auch von meiner Leidenschaft für die Astronomie. Seitdem sind wir Freunde. Später erfuhr ich dann, dass Peter sich auch für Startrek interessiert. Und schon hatten wir ein weiteres Gesprächsthema.
In den folgenden Jahren haben wir dann sehr viel Zeit miteinander verbracht. Und stets – oder doch zumindest meistens – spielte die Astronomie bzw. die Weltraumfahrt oder Himmelsmechanik oder auch die Kosmologie eine wichtige Rolle. Auch nach meiner Erblindung hat sich daran nichts geändert. Wir haben gemeinsam Kurse bei der Volkshochschule besucht. Mit einem sprechenden Taschenrechner von Texas Instruments, der immerhin ca. stolze 250 D-Mark gekostet hat, haben wir u. a. Satellitenbahnen berechnet. Auch haben wir die schnellste bzw. energiemäßig günstigste Route eines Raumschiffs für einen Flug von der Erde zum Mars berechnet. Und natürlich wollten wir auch wieder zur Erde zurückkehren können. Um besser beurteilen zu können, was alles zum Überleben auf dem Mars erforderlich ist, mussten wir uns natürlich auch mit den dortigen Gegebenheiten beschäftigen.
Etwas einfacher wurde es dann, nachdem die ersten sprechenden Computer verfügbar waren. Zu Beginn der 80-er Jahre gab es da noch die Firma Audiodata. Sie boten einen CP/M-Rechner an, der in seinen Ausmaßen nicht unähnlich einem Koffer für eine Flugreise war. Eingebaut war ein kleiner Bildschirm, der in etwa die Größe der Handinnenfläche einer erwachsenen Person hatte. Auch standen zwei Diskettenlaufwerke zur Verfügung. Es kamen Disketten mit einem Durchmesser von 5,25 Zoll zum Einsatz, die jweils eine Kapazit von ungefähr 180 KB hatten. Auch gab es einen Kopfhöreranschluss. Zusammen mit dem Betriebssystem wurde eine Software-Sprachausgabe geladen. Auch wurde mit BASIC eine Programmiersprache mitgeliefert. Es gab da einen Interpreter sowie einen Compiler. Durch Beziehungen bin ich an ein BASIC-Programm gekommen, mit der eine Mondlandung simuliert werden konnte. Es konnte sogar berechnet werden, wie tief ein Krater bei einem Absturz sein würde. Da der Quelltext mitgeliefert wurde, konnte man individuelle Anpassungen vornehmen. Das war schon eine tolle Sache. Und so habe ich auch meine Gehversuche beim Programmieren gemacht. Nachdem IBM seinen ersten Personal Computer auf den Markt gebracht hat, habe ich mir natürlich auch diesen zugelegt. Gekauft habe ich ihn ebenfalls bei der Fa. Audiodata. Und so konnte ich unterstützende Software für unser Hobby entwickeln. Ganz spannend wurde es, nachdem einige Amateurfunksatelliten gestartet wurden. Da konnte man sich so richtig ausleben. Und im Laufe der Zeit sammelte sich immer mehr Wissen an.
Meine Phantasie habe ich von Startrek beflügeln lassen. Besonders angetan haben es mir die Folgen mit James T. Kirk.
Besonders faszinierend fand ich die Möglichkeit des Beamens. Ich war allerdings der Meinung, dass das allein schon aus Energiegründen nicht möglich ist.
Nicht vergessen sollte man auch nicht die Trikorder, die in vielen Details doch an heute übliche Smartphones erinnern.Insgesamt gesehen ist die Astronomie und verwandte Wissenschaften eine wirklich spannende Sache. Bei den üblicherweise verdächtigen Sendern gibt es zahlreiche Dokumentation zur Astronomie sowie zur Weltraumfahrt. Und dann gibt es ja noch die Mediatheken sowie das Internet. Ich frage mich öfters, wie die Leute ins Internet gekommen sind, als es noch keine Computer gab. – (Hermann-Josef Kurzen)
Mein lieber Herrmann,
ich, und ich denke auch einige, die hier mitlesen, sind sehr berührt von Deinem Artikel. Mir persönlich gibt er mal wieder Recht. Die „Inklusion am Himmel“ funktioniert einfach. In vielen Passagen Deines Artikels habe ich mich derart gefunden, dass die direkt aus meiner Feder hätten stammen können. Geschmunzelt habe ich an der Stelle, als Du beschriebst, dass man Dich Professor nannte. Genau das war bei mir auch so. Ich hoffe, dass dieser Titel bei Dir nicht mit so viel Neid und Missgunst besetzt war, als bei mir. Mich sollte der Professor damals einfach nur lächerlich machen. Aber lassen wir das.
Ich bin riesig Stolz, dass ich nun endlich jemanden gefunden habe, der in Sachen Astronomie ganz ähnlich tickt, als ich.
Ich danke Dir, dass Du heute mein Gast warst und glaube, dass hier und heute, am Freitag den 21.07.2023 etwas sehr schönes begonnen hat.
Hallo Gerhard,
Hallo Herrmann,
Was für ein schöner Artikel und ein weiterer Beleg für den beeindruckenden Lebensweg den diese beiden Herren ohne die Möglichkeit etwas zu sehen hinter sich gebracht haben.
Ich ziehe demütig meinen Hut vor soviel Kraft und Wille das zurück gelegte Leben in der Form zu meistern wie die beiden es getan haben.
Von Gerhard weiß ich das er diplomierter Informatiker ist, und aus den Zeilen von Herrmann lässt sich leicht schließen, daß er nicht weniger brilliant ist.
Ich freue mich auf viele neue Beiträge von den beiden.
Viele Grüße von Klaus
Ich wünsche den beiden Brüdern im Geiste viele schöne und weiterführende Aktionen!
Herzliche Grüße
Dietmar