Liebe Leserinnen und Leser,
heute geht es in meinem Blog mal um kein astronomisches Thema. Endlich mal, denn ich möchte künftig auch dem anderen Teil der Blogbeschreibung mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung beimessen.
Heute geht es um Urlaub. Urlaub, nicht im herkömmlichen Sinne, sondern Urlaub von der Behinderung, in meinem Fall von der Blindheit, machen.
Oder sollte man eher sagen: „Urlaub von der Welt der Sehenden?“
Prolog
„Lebe möglichst, als wärest Du sehend!“
stand vor einigen Jahren auf einem Plakat, das den Studierendenraum unseres Institutes zierte. Das war ein Motto der damaligen Leitung, dass wir unbedingt „Top-Blinde“, das war sein Wort, sein sollten, um vorgezeigt zu werden, um Eindruck zu schinden, und letztlich, um auch zu zeigen, welch tolle Arbeit an unserem Institut gemacht wird.
Da das Poster meinem Vorgesetzten gehörte, durfte ich ihm natürlich kein Leid zufügen.
Ich schwor mir aber, dieses Plakat, sollte ich einst dazu befugt sein, umgehend zu entfernen, un die Vernichtung dieses Satzes zu zelebrieren.
Die Zeiten haben sich geändert, ich arbeite mittlerweile seit fast 25 Jahren an besagtem Institut und auch unsere soziale humanistische und pädagogische Ausrichtung hat sich diesbezüglich zum Positiven hin entwickelt, so dass ich vor einigen Jahren die Zerstörung dieses Plakates feierte.
„Blinder, Lebe, als könntest Du sehen“,
„Lahmer, lebe, als köntest Du gehen“,
„Tauber, lebe, als könntest Du hören“
Man merkt hier die Absurdität, die in derlei Sätzen steckt. Es geht schlicht und einfach nicht.
Dennoch. Mein Alltag ist stets der Versuch, zwar nicht so, wie ein Sehender zu leben, aber mich in deren Welt zurecht zu finden und zu bestehen.
Das ist zuweilen recht anstrengend.
Hier soll es aber nicht darum gehen, was Schwierigkeiten bereitet, sondern darum, dass ich es wichtig finde, dass ich ein Mal im Jahr Urlaub von der Blindheit oder der Welt der Sehenden nehme,.
indem ich mich an einem für uns geeigneten Ort mit blinden Menschen treffe.
Der Weg dort hin, also bis ich mich dazu durchringen konnte, war lang.
Mein Weg
Blind unter Sehenden
Als blinder Student unter sehenden Studierenden war es zwar nicht üblich, die Zugehörigkeit zur Gruppe derer, die nicht sehen können, zu verleugnen, aber trotzdem war es mir immer ein Bedürfnis, mich in irgend einer Weise von dieser Gruppe abzugrenzen.
Ich wollte nicht zu jenen gehören, die beispielsweise dauernd mit dem Vorurteil belegt werden, neben der körperlichen auch eine geistige Einschränkung zu haben. Ich war beleidigt, wenn mich jemand fragte, ob ich auch in der Werkstadt XY für Menschen mit Behinderung arbeite. Ich hätte mir mein Abiturzeugnis am liebsten an die Stirne geheftet.
Es war sehr schick, zu den „Top-Blinden“ zu gehören.
Das Phänomen, dass Sehende zunächst irritiert sind und sich nicht trauen, jemanden mit Behinderung, insbesondere blinde Menschen ohne Augenkontakt, anzusprechen, oder dass sich Sehende zunächst mit einer Frage in der dritten Person „Will er etwas trinken?“ an die Begleitperson wenden, oder dass der Mediziner glaubt, durch möglichst lautes Sprechen die Kommunikation zu verbessern, hat nichts mit Dummheit oder Unsensibilität zu tun. Es ist ein psychologischer Mechanismus, dem auch ich, der es eigentlich besser wissen sollte, zuweilen dann unterliege, wenn mir ein Mensch mit einer Einschränkung, beispielsweise mit eingeschränkter Sprachfähigkeit, begegnet. Dies als Trost für uns alle, dass selbst Betroffene eventuell nicht davon frei sind, sobald es sich um eine uns fremde und unbekannte Einschränkung handelt. Dennoch wäre ein hehres Ziel, einen Schalter in unseren Köpfen umlegen zu können, der uns frei macht von derartigen Vorurteilen. Seien wir uns alle dieser Fehler bewusst und betrachten wir jeden Schnitzer in dieser Beziehung als Neuanfang.
Blind unter Blinden
Ein blinder Freund warnte mich davor, mich zu sehr der Gruppe der Sehenden anzuschließen, und meinte, dass ich eines Tages noch froh sein würde, ein Refugium zu finden, in dem ich meine Blindheit ausleben dürfe. Er überredete mich, mit ihm zusammen einen Spezialurlaub für Menschen mit Blindheit zu machen. Und da tat sich mir wirklich eine neue Welt auf. Ich merkte, wie anstrengend mein Leben dadurch war, dass ich meinen sehenden Mitmenschen hinterherhechelte. Ich merkte, wie mir die ganzen Jahre die Gespräche unter Blinden, die thematisch oft anders gelagert sind als die mit Sehenden, so sehr fehlten. Sprechen Blinde über Kinofilme, wird kaum über Schauspieler geredet. Den Film erleben wir als ein Hörspiel, bestehend aus der Filmmusik, den Hintergrundgeräuschen, den Stimmen der Synchronsprecher und seit einigen Jahren mehr und mehr der Audiodeskription. Hierbei handelt es sich um Zusatzerklärungen die das erläutern, was für blinde Menschen im Film nicht hörbar ist, z. B. ein entscheidender Blickkontakt, eine wichtige Geste oder eine Beschreibung einer Umgebung. Diese Audiodeskriptionen werden zwischen die gesprochenen Passagen des Films gepackt und können entweder über einen separaten Tonkanal oder über ein Smartphone mit Knopf im Ohr abgehört werden. Manche Menschen mit Blindheit sprechen auch eher über Hörspiele und Radio, über Geräusche und Musik. Einige binden viele Geräusche in ihre Sprache ein und lieben es, Stimmen naturgetreu nachzuahmen.
Ich merkte, wie wohltuend es war, in dieser Umgebung auch mal blind sein zu dürfen. Ja, es war kein Problem, mir hin und wieder ein Brot schmieren oder das Hähnchen vom Knochen schneiden zu lassen. An diesem Ort durfte ich mir bei derartigen Dingen gerne helfen lassen und musste mir oder anderen nichts beweisen.
Kommen wir nun also zu Einzelheiten:
Was ist bei so einem Urlaub anders:
Die Anreise
Die Meisten dieser Urlaubshäuser für blinde Menschen verfügen über einen kleinen Fuhrpark. Somit kann man sich direkt vom Haus am Zielbahnhof abholen lassen, ohne, dass lästige Taxikosten anfallen, der Taxifahrer nicht weiß, wo man hin möchte, oder… Schon hier merke ich, dass das Personal geschult ist, so dass die Anreise barrierefrei abläuft.
Schon im Vorfeld stimmt man die An- und Abreise so mit dem Haus ab, dass es für das Personal möglichst effizient abläuft, z. B. das mehrere Personen gleichzeitig abgeholt werden können. Das bedeutet manchmal warten, ist aber kein Problem, weil jeder von uns weiß, wie wichtig eine gute Reise und eine Abholung für uns ist, und somit viel Verständnis und Geduld für den Mitbetroffenen aufbringt.
Die Ankunft
Im Haus angekommen, finde ich am Boden Leitlinien, Punktschrift an Zimmertüren, Treppen und Einrichtungen. Der Aufzug spricht mit mir und alle Stockwerke sind taktil beschriftet.
Im Zimmer liegen alle Informationsschriften auch in Blindenschrift aus. Speisepläne sind entweder über das Telefon akustisch, als Aushang in Blindenschrift oder online zugänglich.
Das gilt auch für sonstige Listen, oder den Ausflugsplan.
Abenteuer Essen und Trinken
Beim Essen steht Personal am Buffet zur Verfügung, das Essen wird direkt zum Tisch gebracht und ich werde darüber im Uhrzeigersinn aufgeklärt, was sich wo auf meinem Teller befindet, z. B. „Fleisch von 9 – 11 Uhr, Erbsen zwischen 5 und 6 Uhr“… In manchen Blindenhäusern, gibt es überhaupt kein Buffet. Es gibt zu Mittag eine Menüauswahl, meist ein vegetarisches und ein anderes. Für das Frühstück legt man sich vorher schon fest, was man ungefähr möchte, damit einem das Personal das schon am Platz richten kann, und zu Abend gibt es in dem Fall auch für alle dasselbe Abendbrot.
Zugegeben. Das ist auch für mich manchmal etwas unflexibel und eingeschränkt. Das nervt besonders dann, wenn es mal etwas gibt, das man nicht so mag. Es ist aber möglich, um Ersatz zu bitten.
Ich habe dann halt keine unerschöpfliche Auswahl, wie an einem Buffet in einem Hotel. Das will ich aber u. U. gar nicht. Mich strengt es unheimlich an, wenn meine Begleitung mir erst mal eine halbe Stunde erklärt, was es gibt, und ich weiß, dass das für sehende Begleitpersonen auch so ist.
Was den Ablauf des Essens betrifft, so kann ich mir ganz entspannt, mal ein Fleisch schneiden, das Hähnchen entbeinen, den Fisch filetieren oder einfach mal ein Brot schmieren lassen und ein Getränk wird mir eingeschenkt, wenn ich das möchte.. Vieles von dem, was ich hier aufgezählt habe, kann ich natürlich selbst. Dennoch. Ich finde schön und gesellschaftskonform zu essen manchmal nicht so einfach. Eine Pizza z. B., die größer als der Teller ist, lasse ich mir grundsätzlich in der Küche schneiden, weil sonst die Katastrophe ihren Lauf nehmen würde.
Aber das ist es halt. In meinem Urlaub ist das normal. In anderen Lokalen muss ich es erst erbitten. Meist erfahre ich hier große Hilfsbereitschaft. Aber, es passiert schon mal, dass es vergessen wird, der Kelner dann mit meinem Essen nochmal davon rennen muss, was ja irgendwie auch wieder doof aussieht und Blicke auf sich zieht, oder manchmal ist das Personal überlastet. Ein einziges Mal hat mir das ein Kelner mal ehrlich so kommuniziert…
Normalerweise muss ich mir die Hilfe erbitten. In meinem Refugium wird mir die Hilfe mit viel Verständnis und Empathie angeboten und ich entscheide alles selbst.
Und wenn wir schon bei Kelnern sind. Vor allem dann, wenn es in einem Lokal sehr laut ist, habe ich keine Chance, ohne sehende Hilfe etwas zu erlangen, das meine durstige Kehle benetzen könnte. Ich höre die Bedienung nicht. Ich kann mit ihr keine Zeichensprache oder Augenkontakt führen. Ich kann doch auch nicht, wie ein Proll durch das ganze Lokal schreien… Und, wenn dann noch eine Fremdsprache, z. B. im Ausland oder eine andere Kultur dazu kommt, wird die Bestellung eines Getränkes eine schier unlösbare Aufgabe, ein Stressfaktor und nervt einfach nur.
Hier, in meinem Blindenhaus, werde ich gefragt, ob ich noch etwas möchte. Wenn man am Ort dann schon etwas bekannter ist, merkt sich das Personal sogar, was man so für Vorzüge und Vorlieben hat.
Das gibt es aber manchmal in Stammkneipen auch, was ich als sehr angenehm empfinde.
Orientierung und Mobilität
Sollte ich mich einmal auf der Hotelanlage verlaufen, muss ich mich hier nicht mit zwar wohlgemeinten Erklärungen, wie „Sie müssen dort lang“… herumplagen. Entweder ich bekomme eine Erklärung, die ich verstehe, oder werde hin geführt, bzw. wieder auf den richtigen Weg gebracht.
Gaffer
Man wird am Pool, in der Bar oder am Stand nicht angegafft, wenn man sich mal ohne seine Begleitperson alleine dort hin wagt, weil diese mit einem anderen Gast einen Shopping-Nachmittag macht, den blinden Mann daheim läßst, und möglicherweise nur seine Kreditkarte mitgenommen hat. Darüber zerreißen sich Gäste durchaus das Maul, und stellen die wildesten spekulationen an.
Dass ich aber Shopping unerträglich finde, dass es mir alleine mit meinem Hörbuch, meinem Bierchen oder Kaffee ganz hervorragend geht, können viele sich überhaupt nicht vorstellen.
Ausflüge
Was Ausflüge und andere Unternehmungen betrifft, so ist das in dem Haus, das ich besuche schon so, dass der Urlaub in dieser Hinsicht etwas erlebnisärmer sein könnte, wie sich das Sehende vielleicht so vorstellen,, wenn man ihn mit einer sehenden Reisegruppe etc. erlebt.
Das liegt daran, dass die personellen Ressourcen der Häuser auch begrenzt sind, und hier auch der Sparzwang und die Wirtschaftlichkeit in immer verherender Weise um sich greifen. Viele Blindenhäuser sind mittlerweile geschlossen. Somit muss man immer einen Kompromiss finden, was man miteinander unternehmen kann, dass alle auf ihre Kosten kommen. Das bedeutet halt dann auch mal, dass man seine Wünsche zugunsten des Restes der Gruppe zurückstellen muss.
Wenn ich beispielsweise Gleitschirmfliegen möchte, dann können die anderen nur irgendwie dort, wo der Flugplatz ist, wandern oder Kaffeetrinken gehen, weil der Kleinbus warten muss, bis ich wieder gelandet bin, was mit Seilbahnfahrt Start, Flug und Landung einen ganzen Nachmittag benötigt.
Das bekommt man aber in der Regel ganz gut hin. Ich habe noch keinen Streit deswegen erlebt. Jeder von uns weiß, dass die Welt eines Blinden oft eine Welt der Ungeduld und des wartens ist, weil wir oft nicht sehen, was sich in unserer Umgebung tut, und somit keinen Reiz empfangen.
Oft bieten diese Häuser auch Themenwochen, wie Wandern, Langlauf, Tandem, Basteln etc. an, aber das liegt mir nicht so, eine Woche lang jeden Tag dasselbe zu machen.
Was blinde Menschen im Urlaub so wollen
Wir erleben häufig den Urlaub viel stärker in der Gemeinschaft. Wir wollen überhaupt nicht allen Sehenswürdigkeiten hinterher rennen. Ein vertrauter Spazierweg, selbstständig den Pool benutzen, sich ohne sehende Hilfe in der Bar etwas bestellen, aber auch am Abend musizieren und ein sehr kommunikatives geselliges Leben führen, wie ich das so unter sehenden nur extrem selten erlebe, das ist unser Urlaub. Auch einfach mal ein Hörbuch auf dem Balkon hören, gehört dazu. Natürlich kommen auch Highlights, wie mein vorhin erwähnter Gleitschirmflug vor.
Und nun kommen wir zu dem Punkt, der vermutlich das wertvollste an einem Spezialurlaub für Blinde ist, und wofür man eventuell bereit ist, gewisse Abstriche zu machen.
Das Miteinander
Was ich meine, ist der Umgang, ist die Art der Kommunikation untereinander und die Themen, über welche wir blinden Menschen miteinander sprechen. Außerdem ist es das wohltuende Gefühl, sich auch über die Einschränkung auszutauschen.
Wir sprechen viel über Radio, Hilfsmittel und Apps.
Wir musizieren zusammen, als hätten wir das schon immer getan. Da entstehen spontan und ohne Probe vierstimmige Chorsätze. So musikalisch improvisieren konnte ich bisher nur mit sehr wenigen sehenden Musikern. Entweder sie brauchen Noten, oder müssen Dinge erst üben, die blinde Musiker frei von der Leber weg spielen. Wenn gemeinsam gesungen werden soll, und die Tonart muss transponiert werden, dass jeder mitsingen kann, so passiert das bei blinden Gitarristen, Pianisten oder Akkordeonspielern ganz automatisch…
Bemerkenswert ist die Vielfalt der Personen, die sich in diesen häusern trifft. Vom Menschen, die in einer beschützenden Werkstatt für Behinderte arbeiten, bis hin zum blinden Universitätsprofessor ist alles dabei, und wir finden eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Themen und lachen gemeinsam…
Epilog
Ich mache meinen Spezialurlaub nicht, um ungestört, weil die anderen es nicht sehen, „in der Nase bohren zu können.“ Das hören blinde Menschen übrigens… Ich mache das, weil es mir viel Kraft gibt.
Weil es gut tut und richtig ist, dass ich mich auch mal in meiner Gruppe, in meiner Blindenwelt etc. bewege.
Ich tue es, um dann wieder mit neuer Kraft mich in unserer gemeinsamen Welt, der Welt der Sehenden,
zurecht zu finden, auszutauschen unddamit Brücken der Liebe, von Verständnis und Empathie geschlagen werden, die unsere Welten verbinden.
Mich beängstigt tatsächlich, wenn mehr und mehr unserer Häuser schließen, denn wo soll man ohne diese eine der Beeinträchtigung angemessenen Urlaub machen. Solche Häuser besitzen einen Wert, der sich nicht mit Kapital und Wirtschaftlichkeit messen lässt.